Kurz erwog sie, ob sie mittels des Zweiten Gesichts zu ihm vorstoßen solle. Dies war de nächstbeste Kontaktmöglichkeit nach dem Tvinnr. Sie könnte ihre seelischen Visionen senden und seine Seele damit zu berühren versuchen.
Doch höchstwahrscheinlich würde Kundalimon den Versuch wahrnehmen und ihn als erneuten Angriff, als erneute Grenzverletzung seiner innersten Seelenbereiche verstehen: als beleidigend, beängstigend, genau wie bei ihrem Tvinnr-Versuch. Nein, das durfte sie nicht wagen. Ihre Beziehung mußte langsamer neu aufgebaut werden.
„Also, was kannst du uns sagen?“ fragte Taniane sie am Abend. Brüsk, ohne Umschweife sofort bei der Sache, Business as usual, ganz Häuptlingstil, kein bißchen Mutter. Das war sie sowieso fast nie, eine Mutter. „Habt ihr endlich über den Vertrag zu sprechen begonnen?“
„Er verfügt noch immer nicht über das ausreichende Vokabular.“ Sie sah den Argwohn in Tanianes Blick aufkeimen, und in ihrer Bedrängnis fragte sie: „Glaubst du nicht, daß ich mich wirklich bemüht habe, Mutter?“
„Doch. Ja, ich glaube schon, Nialli.“
„Aber ich kann keine Wunder bewirken. Ich bin nicht wie mein Vater.“
„Nein“, antwortete Taniane. „Natürlich nicht.“
Am Abend der Präsidialsitzung, zur sechsten Stunde nach Mittag, begannen sich die Führer Dawinnos in ihrem noblen Sitzungssaal mit den dunklen geschwungenen Deckenbalken und den granitenen Wänden zu versammeln.
Taniane nahm ihren Platz an dem hohen spiegelblanken Tisch aus rotem Ksultholz unter der großen Spirale ein, welche Nakhaba, die Beng-Gottheit, und die Fünf Götter des Koshmar-Stammes in Himmlischer Verschlungenheit symbolisierte. Hresh saß zu ihrer Linken. Auf den geschwungenen Bankreihen vor ihnen nahmen die verschiedenen Prinzen der Stadt ihre Plätze ein.
In der ersten Reihe die drei Prinzen der Justiz: der quicke elegante Husathirn Mueri neben dem massiven Thu-Kimnibol, der trübselig noch immer in den rotgeflammten Umhang und die Binde der Trauer gekleidet war, und der Beng Puit Kjai, steif und gestrafft daneben. Dann kam Chomrik Hamadel, Sohn des letzten unabhängigen Beng-Häuptlings vor der Vereinigung. Auf der Bankreihe dahinter saßen der Krieger-Veteran Staip und seine Gefährtin, die Opferfrau Boldirinthe, und Simthala Honginda, ihr ältester Sohn, mit seiner Gefährtin Catiriil, die Husathirn Mueris Schwester war. Um sie her ein halbes Dutzend der wohlhabenden Kaufleute und Manufakturbesitzer, die einen Sitz im Präsidialgremium ergattert hatten, und verschiedene Angehörige der Adelsfamilien, die Häupter einiger der Gründerfamilien der Stadt: Si-Belimnion, Maliton Diveri, Kartafirain, Lespar Thone. Gestalten von geringerer Bedeutung — Vertreter der kleineren Stämme und der Handwerker-Gilden saßen in der hintersten Reihe.
Alles trug Umhänge und Festkleidung. Und alle trugen auch grandiosen Helmschmuck, wie es dem Formzwang des offiziellen Anlasses entsprach: ein Sammelsurium raffiniertester, absurdester Kopfzier überall in dem weiten Saal. Der Helm von Chomrik Hamadel überstrahlte alle anderen ohne Schwierigkeit an Auffälligkeit: ein hochgetürmtes Agglomerat aus Metall und funkelnden Juwelen, das sich über seinem Kopf zu einem unmöglichen Gebirge türmte. Nur Puit Kjai, der einen Helm aus Kupferbronze mit gewaltigen nach vorn und hinten ausladenden Silberzacken balancierte, übertraf ihn noch um etliches.
Es kam nicht gerade überraschend, daß diese Beng-Prinzen sich dermaßen aufgetakelt hier zur Schau stellten. Schließlich waren die Bengs ja die ursprünglichen ‚Behelmten‘. Auch war es kaum verblüffend, daß Husathirn Mueri, der ja ein Halb-Beng war, sich mit einem mächtigen goldenen Kuppelhelm mit scharlachroten Stacheln herausgeschmückt hatte.
Aber sogar die reinblütigen Koshmaris — Thu-Kimnibol, Kartafirain, Staip, Boldirinthe — hatten sich ihren prachtvollsten Kopfschmuck aufgesetzt. Und was noch ungewöhnlicher war, Hresh, der vielleicht alle fünf Jahre einmal einen Kopfhelm aufsetzte, trug jetzt ebenfalls einen, eine kleine, raffiniert aus dunklen rauhen Fasersträngen geflochtene und von einem einzelnen Goldband gefaßte Angelegenheit. Aber ein Helm war es eben doch.
Einzig Taniane war unbehelmt. Dafür aber lag auf dem Präsidialtisch neben ihr eine der bizarren alten Masken der früheren Häuptlinge, die sonst an der Wand ihres Arbeitszimmers hingen.
Als die für die Versammlung anberaumte Stunde schlug und ereignislos weiter verstrich, sagte Husathirn Mueri: „Worauf warten wir denn noch?“
Thu-Kimnibol schien dies zu amüsieren. „Hast du es denn dermaßen eilig, lieber Vetter?“
„Aber wir sitzen hier schon stundenlang herum und warten.“
„Ach, das sieht nur so aus“, sagte Thu-Kimnibol. „Im Kokon haben wir viel länger warten müssen, ehe wir den Auszug wagen durften. Siebenhundertmal tausend Jahre, waren es nicht so viele? Das hier ist doch nur ein Augenzwinkern.“
Husathirn Mueri grinste säuerlich und wandte den Blick ab.
Und dann stürzte überraschend Nialli Apuilana herein, atemlos und mit ganz unordentlicher Mantilla und Schärpe.
Sie sah aus, als wäre sie bestürzt, daß sie auf einmal an diesem Ort war. Sie blinzelte, rang nach Luft und starrte eine ganze Weile die versammelten Notablen in unverhohlener Ehrfurcht an. Dann huschte sie zu einem freien Sitz in der vordersten Bankreihe neben Puit Kjai.
„Sie?“ sagte Husathirn Mueri. „Auf die haben wir die ganze Zeit gewartet? Das verstehe ich nicht.“
„Still, Gevatter!“
„Aber.“
„So sei doch still!“ wiederholte Thu-Kimnibol beißender.
Taniane erhob sich und strich mit den Händen sacht über die Häuptlingsmaske vor ihr. „Nun können wir beginnen. Dies ist die abschließende Sitzung mit Beschlußfassung bezüglich eines Vertragsvorschlages über bilaterale Anerkennung territorialer Ansprüche, den die Hjjks unterbreitet haben. Ich rufe als ersten Redner auf: Hresh-den-Chronisten.“
Der Chronist erhob sich langsam.
Er räusperte sich, blickte sich im Saal um, ließ den Blick auf diesem und jenem Hochwohlgeborenen eindringlich ruhen und sagte schließlich: „Ich möchte mit der Rekapitulation der Bedingungen dieses Vertragsangebots der Hjjk beginnen, wie ich sie vermittels des Barak Dayir aus dem Bewußtsein des hjjkischen Emissärs Kundalimon eruiert habe.“ Er hielt ein breites glattes gelbliches Pergament in die Höhe, auf dem in kräftigen braunen Linien eine Landkarte gezeichnet war. „Hier unten ist die Stadt Dawinno, wo das kontinentale Land sich zum Meer hinausstülpt. Hier ist die Stadt Yissou, nördlich von uns. Und hier, jenseits von Yissou, liegt Vengiboneeza. Alles, was nördlich von Vengiboneeza liegt, ist unbestreitbares Hjjk-Gebiet.“
Hresh hielt inne und blickte erneut durch den Saal, als prüfte er die Anwesenheitsliste.
„Die Königin“, fuhr er sodann fort, „schlägt uns eine Demarkationslinie vor zwischen Vengiboneeza und Yissou, von der Küste des Meeres quer durch die Nordhälfte des Kontinents, vorbei an dem großen Zentralfluß, der einst als der Hallimalla bekannt war, und dann weiter bis zum Gestade des anderen Meeres, das unserer Überzeugung nach am östlichen Rand des Kontinents die Begrenzung bildet. Könnt ihr alle diese Demarkationslinie sehen?“
„Klar, wir sehen, wie die Linie verläuft!“ sagte Thu-Kimnibol.
Die scharlachrot gefleckten Augen des Chronisten begannen ärgerlich zu funkeln. „Natürlich. Ja, also sicher könnt ihr. Verzeih mir, Bruder.“ Und ein flüchtiges Pro-forma-Lächeln. „Aber weiter: Die Grenzlinie ist so angesetzt, daß die derzeitige Territorialaufteilung erhalten bleibt. Was die Hjjks jetzt in Besitz haben, soll für ewige Zeiten unbestritten ihnen gehören. Unser Teil gehört dann ebenfalls unstrittig uns. Die Königin bietet die Garantie an, sämtliche Hjjks unter Ihrem Regime — und, soweit ich es verstanden habe, herrscht die Königin über sämtliche Hjjks der ganzen Welt — per Dekret am Betreten des VOLKSTerritoriums zu hindern, es sei denn, es geschehe durch unsere ausdrückliche Einladung und mit unserer Billigung. Und kein Angehöriger des VOLKES soll ohne Erlaubnis der Königin das Hjjk-Territorium nördlich von Yissou betreten.