„Es war aber Hresh, der sie geschlagen hat“, sagte Staip. „Mit seinem Zauberzeug, das er in der Großweltstadt gefunden hat. Das hat sie verschlungen. Ich war dort. Ich hab es gesehen.“
„Ja, das spielte teilweise eine Rolle“, konterte Taniane. „Aber nur zum Teil. Der Feind war nicht fähig, unseren Kriegern zu widerstehen. Wir hatten an jenem Tage nichts zu befürchten von den Hjjks. Wir brauchen sie auch heute nicht zu fürchten. Sie hängen da droben im Norden herum wie zornige summende Bienen, doch wir wissen, sie haben keine wirkliche Macht über uns. Sie sind abscheulich, gewiß. Es sind widerliche, abstoßende Kreaturen. Doch sie ziehen nicht länger in größerer Zahl auf Raubzüge aus. Hin und wieder dringt ein kleiner Spähtrupp ein, und das.“ — sie warf Nialli Apuilana einen bedeutungsvollen Blick zu — „bringt uns dann ab und zu Kummer und Leid. Doch sind derartige Vorfälle, Yissou sei Dank, immer seltener geworden. Wenn wir pro Jahr auf drei Hjjks in unserer Provinz stoßen, dann ist das bereits die Ausnahme. Also brauchen wir uns nicht in Angst und Schrecken vor ihnen zu winden. Gewiß, sie sind unsere Feinde, aber wir können ihnen standhalten, wann immer sie es wagen, uns herauszufordern. Wenn sie über uns herfallen, dann können und werden wir sie zurückschlagen! Warum also sollten wir ihnen gestatten, uns ein Vertragsdiktat aufzuzwingen? Hier und heute bieten sie uns großzügig an, daß wir unser eigenes Land behalten dürften, falls wir nur den Rest der Welt ihnen überlassen. Was ist denn dies für eine Offerte? Wer unter euch kann darin etwas Verdienstvolles sehen? Wer von euch sieht da einen Nutzen für uns?“
„Ich!“ sagte Puit Kjai.
Taniane nickte, Puit Kjai erhob sich und trat ans Rednerpult. Er war ein hagerer, kantiger, nicht mehr ganz junger Mann mit dem üppigen Goldpelz und den leuchtenden Sonnenuntergangsaugen des reinrassigen Beng. Er hatte die Nachfolge seines Vaters, des weisen verschrumpelten Noum om Beng als Hüter der Beng-Historie angetreten. Doch nach der Verschmelzung der Stämme hatte er seine Amtspflichten an Hresh abgetreten und statt dessen eine Stellung im Justizministerium übernommen. Er galt als ein stolzer, unbeugsamer Mann, der mit Leidenschaft einmal gefaßte Meinungen verfocht.
„Ich gehöre nicht zu jenen, die für feige Unterwürfigkeit und ängstliche Nachgiebigkeit plädieren“, begann er und machte eine kleine Wende, damit das Licht von oben besser auf seinen majestätischen Silber-Bronze-Helm falle und sich höchst effektvoll dort widerspiegele. „Ich bin vielmehr der Überzeugung — und die meisten unter euch teilen sie —, daß es unsere von der Vorsehung gewollte Bestimmung ist, daß wir eines Tages über die ganze Welt herrschen sollen. Und wie Hresh möchte auch ich nicht so beiläufig und leichtfertig per Unterschrift auf unser Recht verzichten, die Großweltstädte auf anderen Kontinenten zu erforschen. Doch ich glaube auch an die Vernunft. Und an die Klugheit.“ Er blickte kurz Taniane an. „Der Häuptling sagt, die Hjjks seien für uns keine Gefahr. Du sagst, die Krieger des Stammes Koshmar haben den Feind mit Leichtigkeit in der Schlacht von Yissou geschlagen. Nun, ich war in diesem Kampf nicht dabei. Aber ich habe ihn studiert, und ich kenne den Verlauf gut. Ich weiß, daß an jenem Tag viele Hjjks fielen — aber daß es auch zahlreiche Verluste auf Seiten des VOLKES gab, ja, daß sogar Harruel, König von Yissou, selbst den Heldentod starb. Und ich weiß ebenfalls, daß Staip wahr spricht, wenn er sagt, daß es der Zauber durch diesen Apparat aus der Großen Welt war, den Hresh gegen die Hjjks einsetzte, der an jenem Tag die Schlacht zugunsten des VOLKES entschied. Ohne diese Wunderwaffe hätten sie euch alle vernichtet. Ohne sie gäbe es heute keine Stadt Dawinno.“
„Lauter Lügen“, murmelte Thu-Kimnibol krächzend. „Bei der Heiligen Fünffaltigkeit! Ich war dort! Zauberei hatte mit unserem Sieg nichts zu schaffen. Wir haben heldenhaft gekämpft. Ich hab an dem Tag mehr Hjjks erschlagen, als der da je in seinem ganzen Leben gesehen hat! Und ich war ein bloßes Kind damals. Mein Name lautete da Samnibolon, und das war mein Knabenname. Wer wagt zu bestreiten, daß Samnibolon-Sohn-Harruels in jener Schlacht gekämpft hat?“
Puit Kjai fegte den lauten Ausbruch mit weiter Armgeste beiseite. „Die Zahl der Hjjks sind Millionen, wir dagegen sind selbst jetzt nur Tausende. Und ich habe mehr hjjkische Aggression erlebt als die meisten unter euch. Wie ihr wißt, bin ich Beng. Ich war unter denen, die nach dem Auszug des Koshmar-Stammes weiter in Vengiboneeza lebten. Ich ersuche euch, erinnert euch daran, daß wir die Stadt zehn Jahre lang ganz für uns hatten, dann kamen die Hjjks, zuerst fünfzig, danach hundertfünfzig und dann viele Hunderte, und dann waren es dermaßen viele, daß man sie nicht mehr zählen konnte. Sie wurden uns gegenüber nie tätlich, aber sie vertrieben uns dennoch — kraft ihrer großen Zahl. Und so ist es, wenn die Hjjks friedlich sind. Wenn sie es aber nicht sind. Nun, ihr, die ihr in Yissou gekämpft habt, erlebtet sie ja anders. Ihr habt sie zurückgeschlagen, gewiß. Doch beim nächstenmal, wenn es ihnen einfällt, uns zu bekriegen, haben wir ja vielleicht Hreshs Großweltwaffen nicht zur Verfügung.“
„Was meinst du also?“ fragte Taniane. „Daß wir sie bitten sollen, uns gnädig unser eigenes Land zu überlassen?“
„Ich sage, wir sollten diesen Vertrag ratifizieren — und Zeit gewinnen“, sagte Puit Kjai. „Durch den Vertrag sichern wir uns gegen eine Einmischung der Hjjks in unseren derzeitigen Territorien ab, bis wir stärker sind, stark genug, um uns gegen eine noch so starke Hjjk-Armee zur Wehr zu setzen. Und dann können wir noch immer an eine Gebietsexpansion denken. Dann können wir uns auch mit jenen anderen Kontinenten und den Wundern befassen, die sie möglicherweise bergen, die zu erreichen uns zum jetzigen Zeitpunkt sowieso die Mittel fehlen. Verträge können nämlich auch leicht gebrochen werden, wißt ihr? Wir schenken mit unserer Unterschrift nichts für ewig weg. Aber mit dem Vertrag handeln wir uns Zeit ein. Er hält uns die Hjjks von unserer Grenze fern.“
„Buh!“ brüllte Thu-Kimnibol. „Laß mich antworten, ja? Laß mich dazu ein, zwei Sachen sagen!“
„Hast du geendet, Puit Kjai?“ fragte Taniane. „Gibst du das Podium frei?“
Puit Kjai zuckte die Achseln und bedachte Thu-Kimnibol mit einem verächtlichen Blick. „Ja, ich kann auch gern abbrechen. Ich überlasse also den Platz dem Gott des Krieges.“
„Laßt mich durch!“ fauchte Thu-Kimnibol und drängte ungestüm aus der Sitzreihe, wobei er fast über Husathirn Mueris ausgestreckte Beine gestolpert wäre. Mit hastigem Wutgestampfe schoß er nach vorn, baute sich hinter dem Pult auf und klammerte sich mit beiden Pranken daran. Er war dermaßen riesig, daß das Pult wie ein Kindertischchen wirkte.
Das Trauercape umgab die massiven Schultern wie eine Corona aus Feuer. Heute war sein erstes öffentliches Erscheinen seit Naarintas Bestattung. Er wirkte deutlich verändert, betont reservierter, viel ernster, kaum noch der gemütliche unbekümmert polternde Kriegsmann. Mehreren war dies an diesem Tage bereits aufgefallen, und sie hatten Bemerkungen darüber gemacht. Er trug sichtlich an der Bürde seiner Stellung als einer der Prinzen der Stadt. Seine Augen wirkten dunkler und lagen tiefer in den Höhlen. Er betrachtete sich die Versammlung mit langsam schweifenden, suchenden Blicken.
Als er zu sprechen anhob, geschah dies in einem pompösen, höhnischüberheblichen Ton.
„Puit Kjai sagt, er ist kein Feigling. Puit Kjai sagt, er plädiert nur für Klugheit. Aber wer soll ihm das glauben können? Wir wissen doch alle, was Puit Kjai wirklich damit zum Ausdruck bringt: Daß ihm bei dem bloßen Gedanken an die Hjjks vor Angst die morschen Knochen schlottern. Daß er sich in Alptraumvisionen suhlt, wie sie in gewaltigen Horden vor den Mauern unserer Stadt darauf lauern, hereinzubrechen und ihn — ihn, den einzigartigen, den unersetzlichen Puit Kjai (unwichtig, was mit dem Rest von uns anderen passiert) zu winzigkleinen Fetzchen zerfleischen. Am Morgen wacht er in kalten Schweiß gebadet auf und sieht Hjjk-Soldaten über seinem Bett schweben, die sich gleich daranmachen werden, ihm Fetzen Fleisch aus seinem Leib zu beißen und sie zu fressen. Um mehr geht es ihm, dem Puit Kjai, wahrhaftig nicht. Nämlich darum, einen Vertrag, ein Stück Papier, zu unterzeichnen, durch das die schrecklichen Hjjks in sicherer Entfernung gehalten werden. solange er selbst noch lebt. Ist dem nicht so? Ich frage euch: Ist es nicht wirklich so?“