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Er hörte, wie jemand dicht vor ihm heftig und zornig einatmete. Natürlich, Nialli Apuilana.

„Wir sind anders“, sagte er. „Wir sind Entdecker — oder Wiederentdecker“, fügte er mit einem diplomatischen Blick auf Hresh hinzu. „Tag um Tag entdecken wir Neues, neue Geräte und neue Geheimnisse aus der Altwelt. Ihr — jedenfalls die, die sich noch an die Schlacht um Yissou erinnern — habt bereits gesehen, wie verletzlich die Hjjks gegen derartige wissenschaftliche Waffen waren. Nun, es wird andere, neue solche Waffen geben. Ja, wir wollen Zeit gewinnen — und in dieser Zeit werden wir Methoden entwickeln, um tausend Hjjks mit einem einzigen Schlag zu erledigen. zehntausend. hunderttausend! Und dann endlich werden wir den Krieg in ihr Gebiet hineintragen. Wenn dieser Tag einmal gekommen ist, werden wir den Blitz in unserer Hand halten. Und wie sollten sie uns dann standhalten — mag ihre Zahl auch um noch so viele größer sein als die unsrige? Laßt uns den Vertrag heute unterzeichnen, sage ich. Krieg führen wir dann später!“

Es folgte erneuter Tumult. Alle waren aufgesprungen und brüllten gestikulierend durcheinander.

„Abstimmung!“ schrie Husathirn Mueri. „Ich verlange eine Abstimmung!“

„Abstimmung, jawohl!“ Dies kam von Thu-Kimnibol, aber auch von Puit Kjai.

„Vorher gibt es noch eine Wortmeldung“, fuhr Tanianes Stimme messerscharf in den brodelnden Lärm.

Husathirn Mueri starrte sie verblüfft an. Unbemerkt hatte Taniane während der letzten Augenblicke die Lirridon-Maske aufgesetzt, und der Häuptling stand nun neben ihm am Sprecherpult wie eine Gestalt aus einem Alptraum, hochgereckt, starr, düster-ernst, und das furchteinflößende hjjkische Maskengesicht zog die Aufmerksamkeit aller gebieterisch auf sich. Der Anblick war zugleich lächerlich und beängstigend, doch letzteres weitaus stärker. Da war nicht mehr diese müde ältliche Frau, sondern ein Wesen von erhabener, schrecklich gebieterischer Kraft.

Obwohl ihm nichts mehr zu sagen einfiel, klammerte sich Husathirn Mueri an den Platz am Rednerpult, als wären ihm die Füße im Boden festgewachsen. Dann wies ihn Taniane mit einer Geste, der man sich kaum widersetzen konnte, vom Platz. Mit dieser Maske über dem Gesicht war sie der Born der Macht, und es gab keinen Widerspruch gegen sie. Benommen tapste er wieder zu seinem Sitz an der Seite Thu-Kimnibols zurück.

Und Nialli Apuilana trat ans Pult.

Sie stand zunächst völlig bewegungslos da und starrte in die verschwommene Gesichtermasse unter ihr. Anfangs konnte sie keinen unterscheiden, dann hoben sich ein paar einzelne Gestalten heraus. Sie blickte Taniane an, die hinter der Maske bestürzend verborgen war. Und Hresh. Dann sah sie die träge Massigkeit Thu-Kimnibols vorn in der Mitte, neben ihm den abscheulichen kleinen Husathirn Mueri. Ein Sturm widersprüchlicher Gedanken jagte ihr durch den Kopf.

Am Morgen war sie zu Taniane gegangen, um ihr Versagen einzugestehen. Es war ihr nicht gelungen, mehr über dieses Vertragsangebot der Hjjks herauszufinden, als Hresh sowieso bereits mittels des Barak Dayir erfahren hatte. Nicht daß sie irgendwelche Informationen unterschlagen hätte, aber die Kommunikation mit Kundalimon hatte sich eben als viel schwieriger erwiesen, als sie — oder Taniane — dies erwartet hätten. Also hatte sie sich als unbrauchbarer Spitzel erwiesen. Zu der Vertragssache hatte sie nichts Brauchbares beizubringen. Dies war die Wahrheit. Und Taniane schien es auch so zu akzeptieren.

Und damit hätte alles zu Ende sein können, und ihre staatswichtige Aufgabe wäre damit in sich zu einem Häuflein staubigen Nichts zusammengeschrumpft. Doch anstatt sie zu entlassen, hatte Taniane gezögert, als erwarte sie noch etwas anderes. Und natürlich gab es da auch noch etwas. Nialli hörte sich selber verblüfft zu, als aus ihrem Herzen unerwartete Worte sich lösten und ihr über die Zunge sprangen.

Laß mich trotzdem vor dem Präsidium sprechen, Mutter. Über die Hjjks. Über die Königin. über das NEST. Über Dinge, von denen ich noch nie zuvor sprechen konnte. die ich aber nicht länger verheimlichen kann.

Verwirrte Reaktion Tanianes.

Du willst vor der Präsidialversammlung sprechen?

Ja und zwar bei der Vertragsdebatte.

Sie sah, wie erregt Tanianes Gedanken waren. Der Vorschlag war eine aberwitzige Kühnheit. Ein Mädchen wie Nialli — als Redner — in der Präsidialversammlung? Gestatten, daß dieses Kind mit seinen kapriziösen, wirren, impulsiven schwärmerischen Phantasiegespinsten das Höchste Gesetzgebende Gremium der Stadt besudle? Dennoch, die Vorstellung war verführerisch: endlich bricht die störrisch-launenhafte Nialli Apuilana ihr Schweigen. Sagt endlich aus, enthüllt endlich die Geheimnisse des NESTS. Legt alle die scheußlichen Einzelheiten bloß. In Tanianes Augen der Schimmer der Versuchung. Ein wenig — endlich! — zu erfahren, was in ihrer Tochter vorgeht. Sogar wenn dies in der Präsidialversammlung zu einem öffentlichen Spektakel an Enthüllungen würde. Laß mich reden, Mutter! Laß mich! Bitte — laß mich sprechen! Und der Häuptling nickt Zustimmung.

Und so unwirklich es ihr erscheint, hier ist sie. Am Rednerpult, und aller Augen warten auf sie. Endlich die wahre, die wirkliche Geschichte. Nach beinahe vier Jahren die große Offenbarung. Wagte sie es? Wie würde man darauf reagieren? Für Augenblicke versagte ihr die Stimme. Man wartete. Sie spürte die Ungeduld, die Feindseligkeit, die ihr aus dem Saal entgegenschlug. Für die Mehrzahl der Leute da unten war sie nichts weiter als ein Freak, ein Monster. Ob man sie auslachen würde? Sie verhöhnen? Sie war immerhin die Tochter des Häuptlings. Das wenigstens müßte einige Zurückhaltung bewirken, hoffte sie. Aber es war so scheußlich schwer, den Anfang zu finden. Sollte sie kneifen und davonlaufen? Nein. Nein! Auf keinen Fall! Also, rede zu ihnen. Fang an mit der Show, Nialli!

Und das tat sie dann endlich und begann zu sprechen. Leise, so leise, daß es ihr als zweifelhaft erschien, ob man sie auch nur in der vordersten Reihe hören werde.

„Ich danke dem Hohen Haus und euch allen für die Auszeichnung. Ich stehe hier heute vor euch, weil es Dinge gibt, die ihr wissen müßt — und ich allein kann sie euch sagen —, bevor ihr über eine Antwort auf die Botschaft der KÖNIGIN entscheidet.“

Ihr Herz raste. Ihre Zunge war pelzig vor Beklemmung. Sie zwang sich, ruhig zu werden.

„Im Gegensatz zu euch allen“, sprach sie weiter, „habe ich wirklich unter Hjjks gelebt, wie ihr wißt. Denn ihr habt ja kaum vergessen, daß ich ihre Gefangene war. Und ich jedenfalls kann es niemals vergessen. Ich kenne sie also aus nächster persönlicher Erfahrung — dieses Ungeziefer, von dem ihr sprecht, diese widerwärtigen Wanzen und Kakerlaken, die eurer Überzeugung nach mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müßten. Ich aber sage euch, sie sind alles andere als die abscheulichen seelenlosen Ungeheuer, als die ihr sie darstellt.“

„Sie haben uns überfallen und wollten uns töten, als wir Yissou gründeten!“ unterbrach lautstark Thu-Kimnibol. „Wir waren unser nur zu elf und ein paar Kinder. Ein erbärmliches Bretterbudendörfchen, ein paar hundert Meilen von ihrem Gebiet entfernt. Also nicht gerade eine ernsthafte Bedrohung für sie. Aber sie zogen zu Tausenden heran, um uns zu vernichten. Und sie hätten uns ausgelöscht, wenn wir nicht.“

Ruhig sprach Nialli gegen seine tiefdröhnende Stimme an. „Nein! Sie waren nicht gekommen, um euch zu ermorden.“

„Es sah aber ganz so aus für uns — ein Riesenheer kreischender Krieger, die wild mit ihren Speeren herumfuchtelten. Aber natürlich — jeder kann sich mal irren. Also vermute ich, es handelte sich damals nur um einen netten kleinen Höflichkeitsbesuch.“

Der weite Saal dröhnte vor Gelächter.

Nialli klammerte sich an die Pultkanten. Mit fast zersplitternder Stimme sprach sie weiter. „Ja. Genau, Gevatter, es war ein Irrtum. Aber wie hättet ihr wissen sollen, was sie dort wollten? Habt ihr auch nur ein minimales Begriffsvermögen dafür, warum sie Dinge tun, die sie tun? Verfügt ihr auch nur über den winzigsten Einblick in ihre Denkstruktur?“