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„Ihre Denk struktur?“ sagte Puit Kjai mit breitem Sarkasmus.

„Ihre Denkstruktur, genau! Ihr Denken und ihre Seele. Ihre Weisheit. Nein, jetzt laßt mich bitte ausreden! Ich will ausreden!“ Plötzlich war alle Furcht von ihr gewichen. Nialli ging zum Angriff über und forderte heraus. Sie schien vor Leidenschaft zu lodern. „Ihr kennt mich alle, denke ich. Ihr haltet mich für ein widerspenstiges wildes Kind, eine Gottlose. Vielleicht habt ihr ja recht. Ganz gewiß war ich stets unkonventionell und fiel aus eurem Rahmen. Ich denke nicht daran, es zu leugnen, daß ich nicht besonders viel Gefühl aufbringe für eure Himmlische Fünffaltigkeit — oder für Nakhaba — oder die Fünf-und-den-Einen — oder für irgendeine sonstige Götterkombination, die ihr euch auszudenken beliebt. Sie bedeuten mir nichts, sie sind nu.“

„Gotteslästerung! Anathema!“

Sie hämmerte mit finsterem Gesicht auf das Rednerpult und verschoß wütende Blicke nach allen Seiten. Dies war ihr Auftritt, ihr großer Augenblick, und sie würde sich das nicht rauben lassen. So muß Taniane sich fühlen, dachte sie, wenn sie so ganz auf Großer Häuptling macht.

Mit großem Aplomb sprach sie weiter: „Verschont mich mit euren entrüsteten Zwischenrufen. Ich spreche jetzt. Die Fünf Namen sind genau das für mich, was sie besagen: Namen. Unsere eigene Erfindung, ein Trost für uns in schweren Zeiten. Vergebt mir, Vater, Mutter, ihr alle. Aber das ist meine Überzeugung. Einst glaubte ich an anderes, genau wie ihr. Doch als ich zu den Hjjks kam — als sie mich mitnahmen —, teilte ich ihr Leben und ihr Denken. Und ich begann die wahre Natur des Göttlichen zu begreifen, wie mir dies hier niemals möglich gewesen wäre.“

„Müssen wir uns den Unsinn wirklich noch länger anhören, Taniane, den deine Tochter da verzapft?“ rief ein Hinterbänkler. „Willst du gestatten, daß sie uns mitten ins Gesicht unsere Götter verhöhnt?“

Doch die Häuptlingsmaske antwortete nicht.

Unerschüttert sprach Nialli weiter: „Diese Königin, die Thu-Kimnibol zu Fetzchen zerhacken will. Ihr habt keine Ahnung von ihrer Größe und Weisheit, nicht einer unter euch! Nicht die geringste Ahnung! Habt ihr je auch nur den Begriff Nestdenker gehört?“ Sie war inzwischen gut in Fahrt, und es machte ihr richtig Spaß. „Was könntet ihr mir über Nest-Philosophie sagen? Über Königinliebe, über Nest-Bindung? Ihr wißt nichts davon! Gar nichts! Ich aber sage euch, dieses euer Ungeziefer, diese Wanzen, diese Kakerlaken, wie ihr sie nennt, stehen weit über eurer Verachtung. Sie sind keineswegs Ungeziefer, keine Monster und auch nicht hassenswert oder abstoßend — ganz im Gegenteil. In Wirklichkeit nämlich sind sie Vertreter einer großartigen menschlichen Zivilisation!“

„Was? — Wie? — Die Hjjks menschlich? Jetzt ist sie vollends irre geworden!“

In das ungläubige Gebrüll, das nun von allen Seiten heranbrandete, fuhr Nialli mit lauter, fast donnernder Stimme: „Ja — menschlich! Sie sind Menschen!“

„Was hat sie gesagt?“ fragte der alte Staip verwirrt. „Die Hjjks sind Insekten, keine Menschen. Die Träume-Träumer das waren die Menschlichen. Die rosighäutigen Haarlosen ohne Sensororgan.“

„Die Träume-Träumer waren eine Gattung der Menschlichen, ja. Aber sie waren nicht die einzige. Hört mich an! So hört doch zu!“ Sie umklammerte das Pult und schleuderte ihnen die Worte mit der Kraft des Zweitgesichts entgegen. In vollem Schwall ergoß sich die aufgestaute Flut auf einmal. „Die Wahrheit ist“, erklärte sie in hohem vibrierenden Ton, „daß alle Sechs Völkerschaften der Großen Welt als Menschen gelten müssen, ungeachtet der Gestalt, die ihr Leib gehabt haben mag. Die Träumer und die Saphiraugen, die Vegetalischen, Mechanischen und die Seelords. und die Hjjks! Ja, auch die Hjjks! Sie alle waren menschlich: Sechs zivilisierte Völkerstämme, die friedfertig nebeneinander leben konnten, lernen konnten, wachsen und bauen. Das nämlich bedeutet es, menschlich zu sein. Mein Vater hat mich dies gelehrt, als ich ein Kind war — er hätte es auch euch lehren sollen. Und ich habe es dann neu gelernt — im NEST.“

„Was ist dann mit uns?“ rief jemand. „Du sagst, die Hjjks sind menschlich. Gestehst du uns dann das Prädikat gleichfalls zu? Ist alles, was lebt und denkt, menschlich?“

„In der Großwelt-Zeit waren wir nicht menschlich, nein. Damals waren wir bloße Tiere. Jetzt aber beginnen wir endlich selbst Menschen zu werden, nämlich seit wir den Kokon verlassen haben. Aber was die Hjjks angeht — sie traten bereits vor einer Million Jahren über die Schwelle zur Menschlichkeit. Oder noch länger zurück. Wie dürften wir daran denken, sie zu bekriegen? Sie sind nicht unsere Feinde! Der einzige Feind, den wir haben, sind wir selbst!“

„Das Mädchen ist wahnsinnig“, hörte sie Thu-Kimnibol murmeln, und sie sah, wie er betrübt den Kopf schüttelte.

„Wenn euch der Vertrag nicht zusagt“, schrie Nialli, „dann lehnt ihn ab! Lehnt ihn ab! Aber lehnt auch den Krieg ab! Die Königin meint es aufrichtig. Sie bietet uns Liebe und Frieden. Unsere größte Hoffnung liegt in ihrer Umarmung. Sie wird warten, bis wir allesamt erwachsen werden — die volle Menschwerdung erreichen, ihres Volkes würdig geworden sind —, und dann wird es uns freistehen, uns mit ihnen in einer neuen Solidargemeinschaft zu verbinden, so wie einst die Sechs Völker der Großen Welt verbunden waren, ehe die Todessterne niederstürzten! Und dann. dann.“

Plötzlich rang sie schluchzend nach Luft. Alle Kraft wich urplötzlich von ihr. Sie hatte sich über das Maß verausgabt. Ihre Augen zuckten wild umher, ihr Körper wurde von Schaudern geschüttelt.

„Holt sie da runter“, sagte jemand — Staip, oder Boldirinthe? — hinter Husathirn Mueri.

Alle schrien und brüllten wild durcheinander. Nialli klammerte sich wie in heftigem Fieberschauder fröstelnd an das Rednerpult. Sie glaubte sich kurz vor einem Krampfanfall. Sie wußte, sie war zu weit gegangen, viel zu weit! Sie hatte Unaussprechliches gssagt, die Wahrheit, die sie all die Jahre hindurch vor ihrem Volk zurückgehalten hatte. Und nun hielten sie alle für verrückt. Vielleicht war sie es.

Der Saal um sie herum schwankte, Thu-Kimnibols roter Trauerumhang waberte und pulste wie eine tobsüchtig gewordene Sonne. Hresh, am Präsidialtisch wirkte, als sei er in einer Betäubung erstarrt. Sie blickte zu Taniane, doch der Häuptling stand unergründlich hinter der Maske verborgen, vollkommen reglos inmitten des Chaos, das durch den Saal tobte.

Nialli Apuilana merkte, daß sie zu taumeln begann.

Was für eine schreckliche Szene, dachte Husathirn Mueri. Schockierend. Beängstigend. Erbarmenswürdig. Er hatte Nialli mit wachsender Verblüffung und Bestürzung zugehört. Allein schon ihr Erscheinen an diesem Ort — so jung, so mysteriös, so herzzerreißend schön — hatte eine ungeheuerliche Wirkung auf ihn gehabt. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, Nialli Apuilana könnte jemals vor dem Präsidium sprechen. Aber ganz gewiß hätte er nicht damit gerechnet, daß sie derartige Dinge sagen würde — und überdies noch mit einer derartigen unerschrockenen Kühnheit. Sie jedoch so wild und stark eine Sache vertreten zu hören, das hatte Nialli für ihn nur um so erstrebenswerter gemacht: Ja, eigentlich war sie damit geradezu unwiderstehlich für ihn geworden.

Dann aber war ihre Rede zu chaotischem Gestammel abgesunken, und Nialli selbst war vor ihrer aller Augen von einem hysterischen Anfall gepackt worden.