Und nun war offensichtlich, daß sie jeden Moment zusammenbrechen konnte.
Husathirn Mueri zögerte keinen Atemzug lang, ja er dachte überhaupt nicht, sondern stürzte nach vorn, schwang sich auf das Podium, ergriff Nialli an beiden Ellbogen und hielt sie sicher und aufrecht.
Das Mädchen warf heftig den Kopf und keuchte: „Laß — mich — los!“
„Bitte, komm von da herunter.“
Sie funkelte ihn wild an — doch war es wirklich Haß oder nur ihre Benommenheit? Sanft zog er sie, und sie gab ihm nach. Behutsam führte er sie vom Podium und zog sie, den Arm schützend um sie gelegt, zur Seite weg. Er setzte sie auf einen Platz. Sie starrte wie aus völlig blinden Augen zu ihm auf.
Dann schmetterte Tanianes Stimme in seinem Rücken wie eine Trompete.
„Hört unseren Beschluß! Es erfolgt heute keine Abstimmung. Der Vertrag wird weder zurückgewiesen noch akzeptiert, und es erfolgt auch keine Antwort an die Königin. Der gesamte Vertragskomplex ist auf unbestimmte Zeit zurückgestellt. Inzwischen beabsichtigen wir, Gesandte nach Yissou zu entsenden, um mit König Salaman die Bedingungen eines bilateralen Verteidigungsbündnisses auszuhandeln.“
„Ein Bündnis gegen die Hjjks also?“ riefjemand.
„Gegen die Hjjks, ja. Gegen unseren Feind.“
3. Kapitel
König Salaman empfängt Besuch
In der nebelkühlen Frühe eines Mittsommermorgens begab sich der König Salaman von Yissou zusammen mit seinem Sohn Biterulve, seinem Liebling unter seinen zahlreichen Söhnen, hinaus, um die gewaltige, immer noch nicht fertiggestellte Befestigungsmauer um seine Stadt zu inspizieren.
An jeglichem Tag, ohne Ausnahme, fuhr der Herrscher von seinem Palast im Herzen der Stadt aus, um den Fortschritt der Arbeiten zu besichtigen. Dann stand er am Fuß des Walls und starrte zu den Zinnen und Laibungen hoch droben hinauf und verglich ihr Wachstum mit dem brennenden Zwang, den er in seiner Seele verspürte. Dann erstieg er über eine der zahlreichen inneren Treppen den Bau und trieb sich auf dem obersten Umlauf herum. Die gewaltige schwarze Wehranlage, so hoch sie auch gewachsen sein mochte, war ihm für seinen inneren Zwang niemals ganz hoch genug. In Augenblicken fieberisch-beklommener Furcht stellte er sich vor, wie da plötzlich an der Mauerkrone die Sturmleitern der Hjjks auftauchten. Er malte sich Legionen wildwütiger Hjjks aus, die über die oberste Brustwehr und herab in die Stadt drangen.
Gewöhnlich fanden diese Inspektionsstreifzüge des Königs im Morgengrauen statt, und er war dabei stets allein. Und Bürger, die um diese Stunde bereits auf den Beinen waren, pflegten die Augen abzuwenden, um den König auf der Mauer nicht zu stören. Niemand — nicht einmal seine Söhne — hätte es gewagt, ihn anzusprechen.
Doch an diesem Morgen hatte Biterulve gebeten, ihn begleiten zu dürfen, und Salaman hatte ihm dies sofort gewährt. Es gab nichts, was Salaman Biterulve abschlagen konnte. Biterulve war vierzehn Jahre alt, der sechste von den acht Prinzen, die Salaman gezeugt hatte, Sinithistas einziges männliches Kind — und so zart und sanft war er und den anderen so unähnlich, daß Salaman einst Zweifel gehegt hatte, ob Biterulve aus seinem Samen entsprossen sei. Allerdings hatte er derartige Zweifel für sich behalten, und heute war er darüber froh. Biterulve war von schlankem, langknochigem Körperbau, wohingegen Solomon und die anderen Söhne untersetzt und vierschrötig waren; Solomon und der Rest seiner Brut waren dunkel, doch Biterulves Pelz besaß einen elfenhaft fahlen Glanz — wie ein Schneefeld im Mondenschimmer. Seine kühlen grauen Augen hingegen waren unzweideutig die des Königs; und den geschmeidigen Verstand, obschon weniger stark und wild als bei ihm selbst und den anderen Söhnen, erkannte der König als dem seinen verwandt.
Also ritten sie in der Stunde vor Sonnenaufgang vom Palast los. Aus dem Augenwinkel beobachtete Solomon den Jungen genau. Er machte sich gut auf seinem Xlendi, hielt das zappelige Tier am kurzen Zügel, während sie durch die engen krummen Gassen zogen, retirierte gekonnt, als ein früh aufgestandener Werktätiger mit einem Rollwagen unerwartet um eine scharfe Ecke kam.
Es war eine der großen heimlichen Befürchtungen Salamans, daß dieser sein sanfter Sohn vielle icht zu sanft sei. Es war überhaupt nichts Kriegerisches an ihm; was, wenn Biterulve nicht fähig sein würde, eine prinzlich angemessene Rolle zu spielen, wenn die Hjjks zu dem langerwarteten Zug ansetzten und das große Kataklysma hereinbrach. Salaman fürchtete nicht so sehr die Schmach, denn schließlich hatte er ja einen ganzen Stall von Söhnen, die sich zur Genüge als Helden erweisen würden. Nein, er wollte nicht, daß der Junge litt, wenn die furchtbaren Heerscharen der gottlosen Insekten zum Angriff ansetzten.
Vielleicht habe ich ihn falsch eingeschätzt, dachte er, als Biterulve sein klapperndes Xlendi kühn durch die stillen Straßen traben ließ.
Der König gab seinem Tier die Sporen und holte ihn ein, gerade als er aus dem engen Gewirr der inneren Straßen zu den breiteren äußeren Avenuen vorstieß, die zum Wall führten.
„Du sitzt sehr gut im Sattel“, rief der König. „Viel besser als letztesmal.“
Biterulve blickte grinsend über die Schulter zurück. „Ich bin fast jeden Tage mit Bruikkos und Ganthiav ausgeritten. Die haben mir ein paar Tricks beigebracht.“
Der König war beunruhigt. „Willst du damit sagen, außerhalb der Mauern?“
Der Junge kicherte keck: „Aber Vater, wir können doch schlecht in der Stadt reiten, oder?“
„Ja, allerdings“, sagte Salaman widerwillig. Und was kann es eigentlich schaden, dachte er, was kann ihm schon passieren, da draußen? Bruikkos und Ganthiav sind ja doch zweifellos vernünftig genug und werden sich nicht sehr weit in Gebiete vorwagen, wo gefährliche Hjjk-Banden herumstreunen könnten. Nein, wenn der Kleine mit seinen älteren Brüdern ausreiten will, dann werde ich dazu nichts sagen. Ich darf ihn nicht verhätscheln, wenn ich will, daß ein echter Königssohn aus ihm werde, ein echter Kämpfer.
Inzwischen hatten sie den Mauerwall erreicht. Sie sprangen von ihren Xlendis und banden sie an Pfosten. Am Himmel zogen die ersten grauen Morgenschimmer auf, und der Nebel begann sich aufzulösen.
Salaman fühlte in sich eine ganz uncharakteristische Leichtigkeit. In der Regel war sein Gemüt von düsterer Spannung bedrückt; doch an diesem Morgen fühlte er sich im Geiste frei und ungezwungen, und sein Körper war in einem Zustand ruhiger Gelassenheit. Die vergangene Nacht hatte er mit Vladirilka verbracht, seiner vierten und jüngsten Gemahlin. Ihr Duft hing ihm noch im Pelz, und ihre Wärme durchströmte noch immer beglückend sein Fleisch.
Er war gewiß, er hatte bei der Kopulation der verflossenen Nacht einen Sohn mit ihr gezeugt. Das weiß man immer, glaubte Salaman fest, wenn man einen Sohn macht; und dies war gewiß eine sohnesbringende Vereinigung gewesen.
An Töchtern hatte er dermaßen viele, daß es ihm Mühe bereitete, sich alle ihre Namen zu merken, und sein Bedarf an ihnen war wirklich gedeckt. Die Weiber hatten damals im Kokon die Herrschaft ausgeübt, und ein Weib regierte immer noch in Dawinno, soweit er wußte. Doch Yissou war von allem Anfang an eine Stadt und Stätte für Männer gewesen. Er, Salaman, hatte der alten Koshmar Respekt gezollt und stets gut von Taniane gedacht, doch hier, in seiner Stadt, würde es keine weiblichen Könige geben.
Söhne wollte er haben, zahlreiche, in solcher Menge, daß die Erbfolge gesichert war. Ein König, glaubte er, kann nie genug Söhne haben. Eine Dynastie, das ist wie der Bau einer Befestigungsmauer: Man muß über das unmittelbar Nächstliegende hinausblicken und sich auf die schlimmste Eventualität einstellen. Darum hatte Salaman bisher acht Söhne gezeugt, und in der letzten Nacht, wie er hoffte, einen neunten. War es nicht Chham, der ihm auf dem Thron nachfolgen würde, dann würde es eben Athimin sein; und wenn nicht Athimin, dann Pukor oder Ganthiav, Bruikkos oder einer der noch jüngeren Prinzen. Vielleicht würde gar der, den er in eben dieser Nacht in Vladirilkas Schoß gepflanzt hatte, der nächste König sein. Oder ein künftiger noch zu zeugender Knabe von einer anderen noch zu erwählenden Konkubine. Nur einer Sache war Salaman sich gewiß: Er würde die Herrschaft nicht Biterulve übertragen. Dieser Junge war zu empfindsam, zu vielschichtig in seinem Wesen. Er soll Berater des Königs sein, dachte Salaman. Und einer wie Chham oder Athimin soll die unangenehmen Entscheidungen treffen, welche die Herrschaft mit sich bringt.