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Aber es blieb ja noch genügend Zeit, die Thronfolge zu regeln. Salaman war gerade in sein sechzigstes Jahr gekommen. Er wußte, manche hielten ihn für alt, doch er war da ganz anderer Meinung. Er sah sich noch in voller starker Mannesblüte. Und vermutlich, dachte er, wird mir meine weiche junge Vladirilka, die jetzt süß mit meiner Glut noch in ihrem Schoße schlummert, da recht geben.

Biterulve deutete auf den nächsten Aufgang zur Mauerkrone.

„Gehen wir rauf, Vater?“

„Gleich. Komm, tritt hier neben mich.“ Er nahm das Bauwerk gern zuerst aus der Tiefe in sich auf. Um es zu begutachten. Um seine Wucht in seine zagende Seele bestärkend eindringen zu lassen.

Er schaute also an der Mauer empor und an ihr entlang, soweit sein Blick reichte. Das hatte er schon Zehntausende Male getan, aber er wurde den Anblick niemals leid.

Die gewaltige Befestigungsmauer um Yissou war aus zyklopischen harten schwarzen Steinquadern errichtet, deren jeder eine halbe Mannslänge hoch, doppelt so lang und über eine Armeslänge tief war. Seit Dekaden schon arbeiteten Trupps von Steinmetzmeistern vom frühen Morgen bis in die Dämmerung, an jedem Tag dis Jahr über langsam und unermüdlich in einem Steinbruch in einer steilen Bergschlucht westlich der Stadt und schlugen die Blöcke maß- und kantengenau zu und glätteten sie. Klaglos schleppten die Zinnobärgespanne die schweren Blöcke über das wilde Hochplateau an den Rand des weiten flachen Kraters, in dessen Schutz die Stadt lag. Bei seinem Eintreffen am vorbestimmten Platz an der ständig wachsenden Mauer hievten Salamans geschickte Mauerbauer ihn mittels raffinierter hölzerner Maschinen in Halterungen aus festgedrehten Weidenruten in die Höhe und setzten ihn kühn an die rechte Stelle.

Der König wies mit dem Kinn zur Mauer. „An dieser Stelle ist vor fünf Jahren ein Quader herabgestürzt. Das war der einzige derartige Unfall, den es je gab.“

In seinem Herzen legte sich Bitterkeit, als er daran dachte, wie dies stets geschah, wenn er hier weilte. Drei Werktätige waren von dem stürzenden Stein zerschmettert worden, zwei weitere auf Salamans Befehl hingerichtet, weil sie ihn hatten fallenlassen. Seine eigenen Söhne Chham und Athimin hatten ihm Vorhaltungen wegen des grausamen Urteils gemacht. Aber der König war unerbittlich geblieben. Die Männer waren selbigen Tages weggebracht und im Namen Dawinnos-des-Zerstörenden geopfert worden.

„Ich erinnere mich daran“, sagte Biterulve. „Du hast die Männer, denen der Quader entglitt, töten lassen. Ich denke noch oft an die armen Kerle, Vater.“

Salaman warf ihm einen bestürzten Blick zu. „Wirklich, Junge?“

„Daß sie für einen Unfall mit dem Tod büßen mußten war — das deiner Überzeugung nach wirklich gerecht, Vater?“

Der König zügelte mühsam seinen Zorn. „Wie hätten wir eine derartige Ungeschicklichkeit dulden dürfen? Diese Mauer ist unsere gewaltigste völkische Unternehmung, sie ist heilig. Und Unachtsamkeit bei ihrem Bau ist eine Verhöhnung aller Götter.“

„Glaubst du das wirklich, Vater?“ Biterulve fragte es mit einem Lächeln. „Wenn wir in allen Stücken vollkommen wären, dann wären wir ja selber Götter. So sehe ich das jedenfalls.“

„Verschone mich mit deinen schlauen Gedankenspie lchen“, sagte Salaman und versetzte dem Jungen eine zärtlich-leichte Kopfnuß. „Drei gute Arbeiter mußten sterben, weil diese Maurer Idioten waren. Der Vorarbeiter Augenthirn starb. Die Mauer war sein Lebenswerk. Das schmerzte mich, auf ihn verzichten zu müssen. Und wer weiß, wieviel am Werk arbeitende Leute noch hätten sterben müssen, wenn ich solche Schlamper hätte weiterleben lassen? Der nächste Quader, der ihnen ausrutschte, hätte mir selber auf den Kopf fallen können. Oder dir.“

Tatsächlich hatte Salaman sich sofort gefragt, ob sein grausamer Urteilsspruch weise sei, kaum hatte er ihn gefällt. Das brauchte Biterulve jedoch nicht zu wissen. Das Todesurteil war ihm einfach in einem ersten Anfall von roter brüllender Wut über die Lippen gekommen, als er den herabgestürzten Block erblickt hatte, diesen schön behauenen und jetzt unwiederbringlich zertrümmerten Stein, und diese sechs blutüberströmten Beine, die so elend darunter hervorragten.

Doch einmal getroffene Entscheidungen darf man als König nicht widerrufen. Der König muß gnädig sein, aber gerecht, das wußte Salaman, aber zuweilen passiert es auch einem König, daß er gedankenlos und unbedacht grausam ist, denn dies liegt zuweilen im Wesen des Herrschertums. Und wenn der König schon grausam ist, muß er bemüht sein, niemand merken zu lassen, daß er eventuell an seiner eigenen grausamen Entscheidung zweifelt, oder das Volk könnte ihn für jenen übelsten Typ von Tyrannen halten, den es gibt: den sprunghaftlaunischen. Die bloße eklatante Ungerechtigkeit seines vorschnell gesprochenen Todesurteils machte es ihm unmöglich, es zu widerrufen. Und darum mußte Blut vergossen werden zur Sühne für das beim Bau der Großen Schwarzen Mauer Salamans vergossene Blut. Wenn das Volk darüber murrte, so doch nur höchst insgeheim.

„Komm, Junge, laß uns hinaufsteigen.“

In gleichmäßigem Abstand stiegen am inneren Perimeter des Walls achtzehn wohlgestalte Treppen zu dem schmalen aus Ziegeln gefügten Umlauf an der Mauerkrone empor. Als Salaman die ersten dieser Aufgänge errichten ließ, hatten einige seiner Berater und Söhne sie für absurd, ja sogar zweckwidrig gehalten. „Vater, das hätten wir nie bauen dürfen“, erklärte Chham mit jenem affektiertem Ernst, den er sich als Ältester Prinz schuldig zu sein glaubte. „Das macht es den Hjjks doch nur um so leichter, in die Stadt herabzusteigen, wenn sie einmal von außen die Mauern erklommen haben.“

Und Athimin, Chhams Vollbruder und der einzige andere Sohn von Salamans erster Gefährtin, Weiawale, respondierte volltönend: „Wir sollten sie abreißen. Sie machen mir Angst, Vater. Chham hat recht. Sie machen uns zu verletzlich.“

„Die Hjjks werden diesen Wall niemals übersteigen“, hatte Salaman sie zurechtgewiesen. „Doch wir brauchen diese Treppen selbst, damit wir blitzschnell Truppen zur Verteidigung hinaufbewegen können, falls jemals jemand versuchen sollte, sie zu übersteigen.“

Darauf hatten die Prinzen den Punkt fallengelassen. Sie wußten aus Erfahrung, daß es zu nichts führte, wenn man mit dem Vater über irgend etwas zu argumentieren versuchte. Er hatte die Stadt mit sicherer und geschickter Hand regiert, soweit sie sich zurückerinnern konnten; doch in jüngster Zeit und mit zunehmendem Alter war er mehr und mehr leicht erzürnbar geworden und starrsinniger in seinem Herzen. Jedermann — sogar Salaman selbst — begriff, daß ‚die Mauer‘ kein Gegenstand für eine vernünftige Diskussion sein konnte. Wo es um seine Große Mauer ging, war der König Vernunftgründen nicht zugänglich. Ihn interessierte nur eines: Er wollte sie so hoch auftürmen, daß die Gefahr, sie könnte jemals erstürmt werden, gänzlich irrelevant sein würde.

Bei seinen Inspektionen im Morgengrauen wählte er sich jedesmal einen anderen Treppenaufgang, stieg jedoch unweigerlich über die zweite Treppe links von der seines Aufstiegs wieder nach unten, so daß er sechs Tage brauchte, um den vollen Kreis des Bollwerkes abzugehen. Von diesem Ritual wich er niemals ab, weder im Winter noch im Sommer, nicht bei Regen oder Gluthitze. Ihm war, als hinge die Sicherheit der Stadt davon ab.