Hier — und nur hier — wich die Mauerkonstruktion von der alten Kraterbegrenzung ab. Hier stieß die Bastion ein Stück südwärts vor und zog sich über eine Erderhebung so hoch hinauf, daß man von hier aus das ferne Meer im Westen, die östlichen Wälder und die Berge im Süden sehen konnte.
In den frühen Tagen, als Harruel noch König war und sogar der hölzerne Palisadenwall noch unfertig, und die Stadt bestand aus nichts weiter als sieben schiefen, von Lianen zusammengehaltenen Bruchbuden aus Holz, war Salaman häufig (meist allein, gelegentlich mit seinem Partner, der Weiawala) zu diesem erhöhten Aussichtspunkt gegangen. Dort saß er dann und träumte von den Tagen des Ruhmes, die für ihn anbrechen würden. Dabei hatte er immer wieder dieselbe Vision: Yissou, seine zu Glanz und Größe gewachsene Stadt, prächtiger und größer noch als das alte Vengiboneeza der saphiräugigen Rasse. eine mächtige Stadtmetropole eines gewaltigen Reichs, das sich bis an die Horizonte — und über sie hinaus — erstreckte, und darüber herrschten nicht die Abkömmlinge des Grobschlackses Harruel, sondern seine, Salamans Söhne und Enkelsöhne.
Und teilweise war es denn auch so gekommen. Bisher. Nicht in allen Stücken.
Die Stadt war über ihre anfänglichen Grenzen hinausgewachsen.
wenn auch nicht gerade bis an die Horizonte. Und da die Hjjks nun fest in Vengiboneeza saßen und seine imperialen Expansionsträume im Norden und Osten gekappt hatten, das Meer eine weitere unüberwindliche Barriere im Westen darstellte, blieb ihm nichts weiter als der Süden. Dort waren in jüngeren Tagen nach und nach kleinere bäuerliche Siedlungen entstanden, von denen jedoch nur die in allernächster Nähe Salamans Oberherrschaft anerkannten. Die übrigen bewahrten sich einen vagen Unabhängigkeitsstatus oder betrachteten sich, sofern sie sehr weit südlich saßen, als tributpflichtige Vasallen von Tanianes Dawinno.
Salamans argwöhnische Furcht war, daß seine eigene Stadt nicht einmal halb so groß und bedeutend sein könnte wie Dawinno-City, die Hresh und Taniane im tiefen Süden erbaut hatten. Aber noch blieb ihm Zeit, um sein Imperium zu errichten. Dennoch stand er immer wieder in dem Pavillon, den er sich an der Stelle erbauen ließ, an der er vor langer Zeit seinen Träumen nachgehangen hatte, und schaute über das Land hin und malte sich im Geiste die Größe des Reiches aus, das hier einst bestehen würde.
Biterulve sagte plötzlich, als sie schon fast am Pavillon angelangt waren: „Ich spüre etwas Fremdes, Vater.“
„Was Fremdes? Was meinst du damit?“
„Es kommt von Süden. Nähert sich uns jetzt. Es ist was Starkes, eine Kraft. Ich hab es die ganze Nacht lang schon gespürt und den ganzen Morgen über. Und jetzt ist es noch stärker.“
Salaman lachte. „Ich selbst habe hier einmal ein höchst seltsames Gefühl gehabt, weißt du, Junge? Es war Nachmittag, klarer Sonnenschein, und ich war hier mit Weiawala. Vor langer Zeit, und ich war nur ein paar Jahre älter als du jetzt. Und ich spürte den trommelnden Puls einer auf uns zumarschierenden Armee. Es war eine heranbrausende Streitmacht der Hjjks, eine gewaltige Schar, und sie trieben ganze Herden ihrer zottigen mottenzerfressenen Zinnobären vor sich her und stürzten wie eine Flut aus dem Norden über uns herein. Spürst du das, mein Junge? Ein Heer der Hjjks?“
„Nein, Vater. Es ist ganz anders. Keine Hjjks.“
Aber Salaman hatte sich inzwischen in den Wirrgängen seiner Jugenderinnerungen verirrt. „Es war eine gewaltige Völkerwanderung, die auf uns zukam. Es klang wie der Donner, dieses Dröhnen von tausendmal tausend Hufen. Und dann kamen sie. Aber wir haben sie besiegt! Wir haben sie vertrieben. Aber du kennst doch unsere Geschichte, Junge?“
„Wer kennte sie nicht? Das war der Tag, an dem Harruel starb und du zum König wurdest.“
„Ja. Genau. Das war der Tag.“ Einen Augenblick lang gedachte Salaman Harruels, des meisterlichen Helden im Kampf, der dennoch zu dumpf und primitiv und zu gewalttätig und melancholisch gewesen war, als daß er ein erfolgreicher König hätte werden können, wie er tapfer und heldenmütig an jenem Tag in der Schlacht gegen die Hjjks seinen hundert Wunden erlegen war. Es war so lange her! Damals, als die Welt noch jung war! Wieder legte er den Arm um seinen Sohn. „Biterulve, komm! Komm mit mir in meinen Pavillon!“
„Aber — ich hab gedacht, du erlaubst keinem.“
„Komm!“ wiederholte Salaman mit etwas barscherem Ton. „Ich bitte dich, an meiner Seite zu bleiben. Willst du es mir abschlagen, wenn ich dich so auffordere? Komm, tritt an meine Seite, und dann werden wir herausfinden, was für ein fremdartiges Gefühl es ist, das du angeblich spürst.“
Rasch Umschriften sie die Mauerkrümmung und traten dann in den kleinen Aussichtspavillon. Dort stellten sie sich Seite an Seite an dem langen Aussichtsfenster auf und stützten sich nebeneinander mit den Händen auf den gekerbten Sims. Wie ungewohnt seltsam, dachte Salaman, daß da plötzlich einer hier neben mir ist. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich sowas jemals gemacht hätte. Aber es war ja Biterulve, und für ihn war er zu jedem Regelbruch bereit. Für Biterulve, aber nur für ihn!
Er spähte nach Süden und ließ seine Seele aufsteigen und umherstreifen, doch er fühlte nichts Außergewöhnliches.
Dann schweiften seine Gedanken ab, zurück zu der vergangenen Nacht. Er dachte an Vladirilka, die jetzt in seinem Palast schlummerte, und sein jüngster Sohn — er war ganz sicher, daß es ein männliches Kind sein würde — begann bereits in ihrem Leib zu wachsen. Erst sechzehn war sie, und ihr Fleisch so weich, und ihr Geist so lebhaft. Wie liebreizend sie war, wie bezaubernd zärtlich! Allerdings, sie wird auch nicht die letzte Gefährtin sein, die ich mir erwähle, dachte Salaman. Das Königtum lädt uns beträchtliche Bürden auf. Also ist es nur gerecht, daß es dafür auch großen Lohn gibt. Nirgendwo stand es festgeschrieben, daß die Götter bestimmten, ein König dürfe nur eine Bettgenossin haben. Und darum.
Deine Gedanken schweifen umher wie die eines alten Narren, sagte er zu sich. Er war ziemlich ärgerlich auf sich selbst.
Und zu Biterulve sagte er: „Also? Spürst du es hier?“
Der Junge stand gespannt nach vorn gebeugt, seine Nüstern zuckten, der Kopf war hochgereckt: er wirkte wie ein bebendes Vollblut, das gegen die Fessel ankämpft.
„Es ist sogar noch stärker, Vater. Im Süden. Spürst du es denn nicht?“
„Nein. Nein, ich spüre nichts.“ Salaman konzentrierte sich stärker. Er griff weit hinaus, sondierte das Land bis weit von der Mauer entfernt.
„Nein, nichts. — doch, wart mal!“
Was war denn das?
Etwas hatte den Saum seiner Seele gestreift. Etwas unerwartet Mächtiges. Salaman packte fest die Fensterbrüstung und beugte sich weit hinaus. Er starrte gespannt in den Dunst, der noch über dem Flachland im Süden lag.
Dann richtete er sein Sensor-Organ auf und ließ sein Zweites Wahrnehmungsvermögen hinausschweifen.
Bewegung, weit entfernt. Nur ein verschwommener grauer Fleck, eine kleine Wolke dicht über dem Boden, eine Trübung über dem Horizont nahe der Stelle, an der das Tal zu den Südbergen aufzusteigen begann. Allmählich wurde der Fleck größer, doch er konnte noch immer keine Einzelheiten ausmachen.
„Spürst du es, Vater?“
„Ja, jetzt fühl ich es.“
Hjjks? Unwahrscheinlich. Selbst über diese Distanz war Salaman sich da sicher, denn er konnte keinen Hauch ihrer dürren, trostlosen Seelen erspüren.
„Ich sehe Wagen, Vater!“ rief Biterulve aufgeregt.
Salaman, mit gezwungenem Lachen: „Ach ja! Der Scharfblick der Jugend!“
Dann sah er es auch, und vor die Wagen gespannt waren langbeinige ungeschlacht daherzockelnde weichbeinige Xlendis. Hjjks benutzten niemals Xlendi-Gespanne. Sie reisten zu Fuß, und wenn sie schwere Lasten transportieren mußten, verwendeten sie dafür Zinnobären. Nein, die sich da nahten, mußten zum VOLK gehören. Kauffahrer aus dem Süden, aus Dawinno, das mußten sie sein. Oder?