Aber es war um diese Jahreszeit keine Karawane aus Dawinno angesagt. Der Frühsommer-Treck war bereits durchgezogen; die Herbstkarawane sollte erst in knapp zwei Monden kommen.
„Wer sind sie, kannst du was erkennen?“ fragte Biterulve aufgeregt.
„Aus Dawinno“, sagte Salaman. „Siehst du die rotgoldenen Wimpel an den Zeltstangen? Einer, zwei, drei, vier, fünf Planwagen kommen die Südstraße herauf. Wahrlich seltsam und ungewöhnlich — mein Junge, du sagtest es!“ Aber sind es wirklich Händler, fragte er sich. Wozu sollten außer der Zeit Händler anreisen, wo es für sie keine Güter gab, die sie hätten einkaufen können?
Oder hatten die Dawinnaner plötzlich Eroberungsgelüste entwickelt? Unwahrscheinlich. Krieg paßte nicht zu Taniane und schon gar nicht zu Hresh, und in jedem Fall sahen diese absurden Xlendi-Wagen nicht aus wie Militärfahrzeuge.
„Bei der Karawane befindet sich jemand, der sehr stark ist“, sagte Biterulve. „Es war sein Geist, den ich die ganze Nacht über näher kommen gespürt habe.“
„Es muß eine Gesandtschaft sein“, murmelte Salaman.
Irgendwo gibt es Ärger, dachte er, und sie kommen _ her und wollen mich da mit hineinziehen. Oder wenn es noch keinen Ärger gibt, dann läßt er bestimmt nicht mehr lang auf sich warten.
Er gab Biterulve ein Zeichen, und sie stiegen vom Wall hinab. Dann ritten sie rasch in den Palast zurück. Es war noch immer sehr früh am Morgen. Der König ging und weckte seine anderen Söhne.
Das Ringen um die Bestallung als Gesandter Dawinnos am Hof König Salamans war in vielem der geifernden Hektik nicht unähnlich gewesen, die ausbricht, wenn man ein Stück zartes Fleisch in einen Käfig voller hungriger Stanimander oder Gaboole wirft. Der Botschafter würde viele Monde fort sein; ihm stand ausreichend Zeit zur Verfügung, ein festes Bündnis mit dem mächtigen Salaman zu schmieden; er würde eine höchst bedeutende politische Figur in der Allianz der beiden Städte sein, wie immer die letztlich aussehen mochte. Und so umtänzelten die bedeutenden Männer des Stadtstaates einander in wildem Gerangel um den saftigen Bissen: Puit Kjai, Chomrik Hamadel, Husathirn Mueri, Si-Belimnion und noch ein paar andere.
Am Ende wählte Taniane dann aber Thu-Kimnibol für die Gesandtschaft in den Norden.
Sie traf diese Wahl nicht ohne beträchtliche Bedenken und mit einigem Zögern, denn Thu-Kimnibol und Salaman hatten einst einen Legende gewordenen Streit ausgefochten, vor langer Zeit, als Thu-Kimnibol noch in der von seinem Vater Harruel gegründeten Stadt lebte und über die jetzt Salaman herrschte. Es war allseits bekannt. Es hatte zornige Worte gegeben, wechselseitige Drohungen sogar, und am Ende war Thu-Kimnibol geflohen und hatte in Hreshs neugegründeter Stadt im Süden Asyl gefunden. Viele — unter ihnen besonders Husathirn Mueri und Puit Kjai — hielten es für abwegig und unweise, Thu-Kimnibol in diplomatischer Mission zu seinem alten Feind zu entsenden.
Doch Thu-Kimnibol vertrat seine Sache mit großer Beredsamkeit und argumentierte, daß er den Charakter des Königs von Yissou besser verstehe als irgendwer sonst, und daß er darum die einzige vernünftige Wahl für diese Aufgabe sei. Und was den Streit angehe, den er mit Salaman gehabt habe, sagte er, so sei das eine uralte Geschichte, eine unbedeutende Episode aus seiner hitzköpfigen Jugend, ausgelöst von törichtem Stolz, längst von ihm überwunden und abgetan — und gewißlich für Salaman nach so vielen Jahren ebenfalls bedeutungslos geworden. Zudem, gab Thu-Kimnibol mit großem Nachdruck zu verstehen, verlange es ihn danach, seiner Stadt nunmehr in einer neuen, einer möglichst aufreibenden gehobenen Funktion zu dienen, damit ihm die kummervolle Trauerarbeit nach dem Verlust seiner Gefährtin leichter falle. Wenn er alle seine Energie auf diese Mission bei Salaman lenken könne, werde ihn dies von seinem Schmerz ablenken.
Letztlich war es dann Hresh, der bei der Entscheidung für seinen Halbbruder den Ausschlag gab. „Er ist der richtige Mann dafür“, erklärte er Taniane. „Er ist der einzige, der Salaman als Gleichgewichtiger gegenübertreten kann. Die anderen, die sich um die Aufgabe bewerben, sind kleine Lichter und engstirnig. Und das kann keiner von Thu-Kimnibol behaupten. Im Gegenteil, mir will scheinen, daß er seit Naarintas Tod sogar gewachsen ist. Es ist jetzt etwas an ihm, das ich vordem nie bemerkt hatte — er wächst innerlich zur Größe heran, Taniane. Ich kann es spüren. Ihn sollten wir senden.“
„Ja, vielleicht“, sagte Taniane.
Vor Antritt seiner Reise unterzog sich Thu-Kimnibol einem Gebetsund Fastenritual und ausgedehnten Konsultationen mit Boldirinthe; denn er war auf seine Weise ein frommer Mann und getreuer Diener der Himmlischen Fünffaltigkeit. Es gab Leute, die ihn für einen Einfaltspinsel hielten, weil er in diesen modernen Zeiten an seinem Glauben festhielt. Doch was solche Leute sagten, beeinflußte ihn in keiner Weise.
„Selbstverständlich werde ich Yissou für dich einspannen“, sagte Boldirinthe schnaufend und keuchend, während sie in ihrem Schrein nach den Talismanen und Amuletten kramte. Boldirinthe, die Weise Frau, die Heilhexe und Zauberpriesterin des VOLKS, war schon sehr, sehr alt, ja, sie war sogar noch eine im Kokon Geborene und hatte als Letzte seit den Tagen des Auszugs überlebt. In den jüngsten Jahren hatte die vierschrötige kräftige Frau gewaltige Fettmassen angesetzt und sah nun aus wie ein Faß. „Yissou — zu deinem Schutz“, sagte sie. „Und Dawinno — damit du gegen alle Feinde obsiegst, die sich dir in den Weg stellen.“
„Aber bitte auch Friit, um mich zu heilen, falls die Feinde schneller waren“, sagte Thu-Kimnibol grinsend.
„Ja, gewiß doch, Friit, gewiß.“ Lachend setzte sie die Steinfigurinen auf den Tisch. „Und dann die Göttin Mueri, damit sie dich tröste, wenn dich in den Nordlanden das Heimweh überkommt. Und Emakkis, um deine Diät zu garantieren. Wir werden alle Großen Fünf für dich um ihre Huld anflehen, Thu-Kimnibol. Das ist immer das Gescheiteste.“ Ihre Äuglein blitzten. „Sollte ich vielleicht auch Nakhaba für dich anrufen?“
„Boldirinthe, bin ich ein Beng?“
„Aber ihr Gott hat große Macht. Und wir behandeln ihn wie einen von den unsrigen. heutzutage, seit wir ein Stamm geworden sind.“
„Ich werde meine Reise ohne Nakhabas Beistand machen“, sagte Thu-Kimnibol unerschüttert.
„Wie du es wünschst. Wie du es wünschst.“
Und Boldirinthe entzündete ihre Kerzen und streute Weihrauch. Die Hände zitterten dabei ein wenig. Das Alter machte ihr in letzter Zeit mehr und mehr zu schaffen. Thu-Kimnibol überlegte, ob sie vielleicht krank war. So eine nette alte Frau, dachte er. Vielleicht ein paar boshafte Zahnstummelchen da und dort, aber keine echte Bösartigkeit, nichts wirklich Übles. Jedermann liebte sie. Er selbst war nicht alt genug, sich noch deutlich an Torlyri zu erinnern, die vor Boldirinthe die Opferfrau gewesen war. Aber jene, die sich erinnern konnten, sagten, Boldirinthe sei eine gute Nachfolgerin und so herzlich und freundlich wie Torlyri zu ihrer Zeit. Und das war ein gewaltiges Lob, denn selbst heute noch, nach so vielen Jahren, sprachen die älteren Leute noch mit großer Liebe von Torlyri. Sie war die Opferfrau des VOLKS in den Tagen Koshmars gewesen, zunächst im Kokon, dann nach dem Auszug, in Vengiboneeza. Aber dann hatte das VOLK Vengiboneeza wieder verlassen und war zur zweiten Wanderung aufgebrochen, und Torlyri war zurückgeblieben, denn sie war in Liebe entbrannt zu dem Beng-Krieger Trei Husathirn, und den hatte sie nicht verlassen wollen. Und damals war Boldirinthe als Opferfrau an Torlyris Stelle getreten.
Ziemlich schwer zu verstehen, dachte Thu-Kimnibol, wie ein so allseits geliebtes Weib wie Torlyri einen Sohn wie Husathirn Mueri gebären konnte, diese giftige, wendegeschickte Schlange. Nun, womöglich war es das Beng-Erbe, das Husathirn Mueri zu dem gemacht hatte, was er war.
Boldirinthe fragte: „Wie lang, glaubst du, wird deine Fahrt dauern?“