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„Bis ich dort bin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

„Ich erinnere mich an Yissou. Damals bestand die Stadt aus sieben erbärmlichen hölzernen Schuppen, und die waren zudem noch recht unbeholfen zusammengenagelt, sogar der, den sie als Königlichen Palast bezeichneten.“

„Die Stadt ist inzwischen etwas größer geworden“, sagte Thu-Kimnibol.

„Ja ja, das wird schon so sein. Aber ich erinnere mich eben daran, wie es damals war — beinahe nicht vorhanden. Weißt du, ich war nämlich einmal dort. Auf dem Marsch von Vengiboneeza hierher sind wir dort vorbeigekommen. Und dich, dich hab ich dort auch gesehen, damals. Du warst noch ein ganz kleiner Junge. Na, also nicht ganz so klein, wenn ich bei der Wahrheit bleiben muß. Du warst schon damals überentwickelt für dein Alter und sehr kampfeslustig. Du hast in einer gewaltigen Schlacht, die damals in Yissou stattfand, sogar schon Hjjks getötet.“

„Ja, habe ich“, sagte Thu-Kimnibol nachsichtig. „Ich erinnere mich auch noch daran. Sollte ich mich jetzt nicht neben dich knien, Mutter Boldirinthe?“

Sie warf ihm einen schlauen Blick zu. „Wieso schickt Taniane dich als Gesandten?“

„Wieso sollte sie nicht?“

„Es ist irgendwie seltsam. Wie ich gehört habe, gibt es zwischen dir und König Salaman böses Blut. Oder ist es nicht wahr, daß du sein Rivale warst, als es um den Thron von Yissou ging? Und jetzt wirst du als Botschafter zu ihm zurückkommen, aber ich frage mich, ob er dir vertrauen wird. Muß er nicht glauben, daß du ihn immer noch verdrängen willst?“

„Die ganze Sache war vor so langer Zeit“, sagte Thu-Kimnibol. „Ich habe wirklich keine Absichten auf seinen Thron. Und das weiß er. Außerdem, ich könnte ihm den Thron gar nicht nehmen, selbst wenn ich wollte. Nein, Taniane entsendet mich, weil ich Salaman besser kenne als sonst einer, ausgenommen vielleicht Hresh und Taniane selbst, und die können ja kaum selbst hinfahren. Also, erbete mir eine sichere Reise, Mutter-Boldirinthe, und laß uns gemeinsam für meine Gefährtin Naarinta beten, deren Seele sich ebenfalls auf einer Reise befindet. Und dann laß mich ziehen.“

„Ja. ja.“

Sie stimmte die Yissou-Anrufungen an. Doch gleich brach sie wieder ab und zog sich in ein anhaltendes Schweigen zurück, so daß er schon dachte, sie sei vielleicht eingeschlafen. Dann kicherte sie.

„Ich hab mal mit Salaman kopuliert. Das war noch im Kokon. Er war viel jünger als ich, vier, fünf Jahre jünger, ein Kerlchen, so zehn, elf. Aber schon damals stramm und prall vor Lust. Und er kam zu mir. Ganz ruhig und leise war er damals. Ein kleiner dunkler Knabe, sehr breit in den Schultern. und so stark, daß du es nicht für möglich halten wirst. Und er kam zu mir und faßte nach meinen Brüsten.“

„Mutter Boldirinthe, könntest du bitte.“

„Und dann haben wir es eben gemacht, Salaman und ich. Mitten auf dem Fußboden in der Gewächskammer. Da haben wir uns unter den Samtbeerenreben herum und herum und herum gewälzt. Er sagte kein einziges Wort. Vorher nicht und nicht dabei. Danach auch nicht. Er sprach überhaupt nicht viel damals. Und es war das einzige Mal, daß wir zusammen waren, das einzige Mal überhaupt, daß ich irgendwie mit ihm zu tun hatte. Danach gab es nur noch Weiawala für ihn. Na ja, und ich war ja sowieso dann mit Staip zusammen. Wenn ich gewußt hätte, daß Salaman einmal König sein würde — aber wie hätte ich sowas wissen sollen, wir hatten doch gar keine Könige, das Wort selbst bedeutete gar nichts für uns.“

„Mutter Boldirinthe!“ drängte Thu-Kimnibol heftiger.

Er befürchtete, die Alte würde ihm ihre ganze Lebensgeschichte herunterbeten, jede einzelne Kopulation, jedes Tvinnr-Erlebnis der letzten fünfzig Jahre en detail. Doch sie hatte anscheinend ihren Rückerinnerungssalto beendet. Ihr Geist konzentrierte sich nun ganz auf ihre Aufgabe. Sie berührte Thu-Kimnibol behutsam mit ihrem Sensor. Dann schlug sie die heiligen Fünf Zeichen, sprach die angemessenen Formeln, überreichte ihm die Talismane, brachte die Götter herab in das Gemach und weitete Thu-Kimnibols Seele für sie, so daß sie Eingang fänden. Sie erschienen vor ihm ganz leibhaft lebendig, in so starker Wirklichkeit, daß er sie alle nach ihrem Aussehen erkannte, obwohl sie gestaltlos und bloße göttliche Aura waren. Leuchtende Lichtwolken waren sie, die ihn im Dunkel umkreisten. Da war die liebevolle Mueri, und dies war der grimme unerbittliche Dawinno, und dort Emakkis-der-Ernährer, und da Friit, da Yissou, der ihn beschützen würde. Im heiligen Schutz, den Boldirinthes Opferkammer bot, tat er sich auf und streckte sich den Göttern entgegen, und er fand sie: die Fünf Himmlischen, die über die Welt herrschten. Und er umhüllte seine Seele mit dem schützenden Mantel ihrer schützenden wärmenden Nähe. Es war die innigste Kommunion, die er jemals erlebt hatte, jedenfalls kam es ihm so vor in diesem Augenblick. Ein Gefühl großer Befriedigung kam über ihn — und tiefer anhaltender Friede.

Er fühlte sich zum Aufbruch bereit. Die Götter waren mit ihm, seine Götter, die er begriff und liebte. Sie würden ihn geleiten und beschützen auf seiner Reise in den Norden.

Mit den in jüngerer Zeit im VOLK aufgekommenen komplizierteren (weniger simplen) Theologismen hatte Thu-Kimnibol nichts im Sinn. Da gab es Gruppen, die verehrten die verschwundenen Menschlichen — ja, sogar solche, die behaupteten, diese Menschen seien größere Götter gewesen als die Heiligen Fünf. Andere beugten vor dem Beng-Gott Nakhaba die Knie und behaupteten, sogar er nehme im Himmlischen Bereich einen höheren Rang ein als die Fünf, da er der Vermittler sei, der mit den Menschlichen sprechen und die Sache des VOLKS vertreten könne.

Und dann gab es da noch andere — das waren meist Leute von der Universität, eben die Gruppe um den alten Hresh —, und die redeten von einem Gott, der über allen anderen sein sollte, höher als die Menschlichen und Nakhaba und die Fünffaltigkeit. Der Sechste, so nannten sie diesen Gott. Der Schöpfer-Gott. Von ihm (oder ihr) war gar nichts bekannt, und sie sagten, es könnte auch nie etwas bekannt sein, da ER-SIE-ES grundsätzlich nicht ge- oder erkannt sein könne.

Thu-Kimnibol wußte nichts mit einem derartigen Überangebot von Göttern anzufangen. Ihm erschien es als nutzlos, sich mit noch mehr als den Fünfen herumzuschlagen. Jedoch fiel es ihm leichter, die Bereitschaft zu einer Verehrung dieser anderen Götter zu verstehen, als die Haltung dieser VOLKS-Minorität, die wie seine unmögliche Nichte Nialli Apuilana anscheinend an überhaupt keine Götter glaubte. Was war das doch für ein trostloses Dasein, gottlos unter dem feindseligen Himmel einherzugehen! Wie konnten diese Leute das nur ertragen? Erstarrte ihnen denn nicht das Herz in eisiger Angst in dem Wissen, daß da keiner war, der sie beschützte? Ein solches Glaubens- oder Unglaubens-Konzept erschien Thu-Kimnibol als schlichtweg verrückt. Immerhin — Nialli Apuilana konnte man eine gewisse Entschuldigung zubilligen. Es war schließlich allgemein bekannt, daß die Hjjks irgendwie ihren Verstand manipuliert hatten.

Allmählich tauchte Thu-Kimnibol aus seiner Götterversunkenheit wieder auf. Er merkte, er saß zusammengesunken an Boldirinthes rohem Holztisch, und sie watschelte herum und stellte die Götter wieder in den Schrein zurück. Sie sah aus, als wäre sie mit sich selbst recht zufrieden. Sicher wußte sie, wie stark die Vereinigung mit den Göttern gewesen war, die sie für ihn bewirkt hatte.

Stumm umarmte er sie. Das Herz floß ihm über vor Liebe zu ihr. Nach und nach schwand der heftige Eindruck des Kontakts mit den Numina, und er schickte sich an, sich zu verabschieden.

„Sei auf der Hut vor König Salaman!“ sagte Boldirinthe, als er bereits unter der Tür der Kammer stand. „Salaman ist ein sehr schlauer Bursche.“

„Als ob ich das nicht wüßte, Mutter Boldirinthe.“

„Viel schlauer als du!“

Thu-Kimnibol lächelte. „Ich bin nicht ganz so verblödet, wie man allgemein zu glauben scheint.“