„Dennoch ist er schlauer als du. So gescheit wie Hresh ist er, der Salaman. Glaub mir! Sei auf der Hut vor ihm. Er wird dich irgendwie austricksen wollen.“
„Aber ich durchschaue Salaman. Wir verstehen einander durchaus.“
„Ich hab gehört, er ist in seinen späten Jahren wild und gefährlich geworden. Er hat die Macht schon so lange inne, daß er davon wahnsinnig geworden ist.“
„Kaum“, sagte Thu-Kimnibol. „Gefährlich, ja, das vielleicht. Aber ganz gewiß ist er kein Verrückter. Ich hab Salaman über eine lange Zeit gekannt, als ich in Yissou lebte. Und man merkt, ob einer den Wahnsinn in sich trägt oder nicht. Er ist ein stabiler Typ.“
„Ich hab mal mit ihm kopuliert“, sagte Boldirinthe. „Also weiß ich Dinge von ihm, die du nie wissen wirst. Fünfzig Jahre ist das nun her, aber ich hab es niemals vergessen. So ein stiller Bub war der damals. Aber in ihm drin, da brannte ein Feuer, und so ein Feuer, das brennt sich in fünfzig Jahren nach außen durch. Sei auf der Hut, Thu-Kimnibol!“
„Ich danke ergebenst, Mutter Boldirinthe.“
Und er kniete nieder und küßte das Ende ihrer Stola.
„Sei auf der Hut.“
Auf dem Weg von der Klosterzelle der Opferpriesterin in die Unterstadt kreuzte sich Thu-Kimnibols Weg mit dem der Nialli Apuilana, die ihm auf dem Kopfsteinpflaster der steilen Minbain-Gata entgegenkam. Es war ein heller Tag voller Goldlicht, und von Westen her wehte ein duftgeschwängerter Wind aus den Berggärten über der Bucht, wo die gelbblättrigen Sthamidien-Bäume in voller Blüte standen. Nialli trug ein Tablett mit Essen und eine Karaffe hellen Würzweins für Kundalimon.
Ihre Stimmung hatte sich ein wenig, wenn auch nicht viel, gehoben. Nach dem bestürzenden Zusammenbruch vor der Präsidialversammlung hatte sie sich mehr oder weniger in eine Klausur zurückgezogen. Tagelang hatte sie sich kaum in der Öffentlichkeit blicken lassen und sich nur zweimal täglich zum Mueri-Haus geschlichen und sobald Kundalimon sein Essen erhalten hatte, war sie wieder in ihr Zimmer gekrochen. An mehreren Tagen war sie erst gar nicht selbst gegangen, sondern hatte es einem Wachmann überlassen, den ‚ Staatsgast‘ zu füttern. Yissou allein mochte wissen, was sie dem Armen dabei vorsetzten. Die meiste Zeit blieb Nialli für sich, meditierte, brütete, wiederholte sich im Geiste immer und immer wieder neu, was sie vor der Versammlung gesagt hatte, wünschte, daß sie die Hälfte oder mehr als das zurücknehmen könnte. Dabei war es doch aber von solch großer Wichtigkeit für sie gewesen, endlich einmal laut Stellung zu beziehen: Dieses ganze üble Gerede anzuprangern. Von den Hjjks als Ungeziefer, den Hjjks als kaltblütigen Killern, den Hjjks dies, den Hjjks das. Dabei wußten sie nichts, gar nichts. Also hatte sie sprechen müssen. Aber seither fühlte sie sich gereizt und als hätte sie sich irgendwie entblößt. Aber erst jetzt wurde ihr bewußt, daß ja kaum eine Seele in der Stadt bisher von ihrem Ausbruch etwas gehört hatte, daß die meisten, oder gar alle, die Zeugen gewesen waren, es vorzogen, darin nichts weiter zu sehen als einen kleinen hysterischen Anfall, eben ein exzentrisches Verhalten, wie man es von so einer wie Nialli Apuilana nicht anders erwarten konnte. Nein, schmeichelhaft war das gar nicht. Andererseits brauchte sie so aber auch nicht zu befürchten, daß man sie auf den Straßen auspfeifen würde.
Der Anblick Thu-Kimnibols freute sie. Gewiß, sie war in nahezu allen Stücken anderer Ansicht als er, besonders was die Hjjks anging; doch ihr gewaltiger Gevatter hatte eine Kraft und eine Würde an sich, die sie als stabilisierend empfand. Ja, und auch eine gewisse Herzenswärme. Zu viele von diesen Kriegerprinzen gefielen sich in ostentativen martialischen Machoposen. Thu-Kimnibols Stil war da weitaus schlichter.
Sie sprach: „Kommst du von Boldirinthe, Gevatter?“
„Wie kannst du das wissen?“
Nialli warf den Kopf in den Nacken und wies auf die Klause der Opferpriesterin auf der Spitze des Hügels hin. „Sie lebt doch genau dort droben. Außerdem leuchtet das Licht der Götter noch in deinen Augen.“
„Ah. Du kannst das erkennen?“
„Aber sicher, man sieht es doch.“
Sie verspürte einen scharfen neidvollen Stich. Auf seinem breiten Gesicht lag ein Ausdruck so tiefer Seelenruhe und Selbstsicherheit.
Thu-Kimnibol lächelte breit zu ihr herab. „Ach, und ich hab gedacht, du bist eine Gottlose, Kindchen. Was weißt denn du vom Licht der Götter?“
„Ich brauche schließlich nicht an Yissou und den restlichen Haufen zu glauben, um zu erkennen, daß du vor kurzem von einer anderen Welt gestreift worden bist. Außerdem bin ich auch gar nicht so gottlos, wie du glaubst. Ich sag dir, in deinen Augen leuchtet der Glanz der Götter. So hell wie das Licht von einem Laternenbaum in einer mondlosen Nacht.“
„Aha, also nicht gottlos?“ Thu-Kimnibol runzelte die Stirn. ‚Pu sagst, du bist nicht gottlos, Mädchen, trotz all dem?“
„Ich hab meine persönliche Art von Glauben“, sagte sie. Die Wendung, die das Gespräch nahm, bereitete ihr zunehmend Unbehagen. „Auf meine Weise bin ich doch irgendwie gläubig, ja. Also jedenfalls sehe ich es so, auch wenn andere Leute hier das nicht gelten lassen würden. Aber ich spreche nicht gern über sowas. Glauben und Überzeugungen sind was höchst Persönliches, findest du nicht?“ Sie brachte ein bezaubernd-verwirrendes Lächeln zustande. „Aber ich bin glücklich um deinetwillen, daß Boldirinthe dir den Trost spenden konnte, dessen du bedurftest.“
„Boldirinthe, ach ja!“ sagte er mit einem leisen Lachen. „Boldirinthe lebt jetzt mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen in der nächsten Welt. Es war gar nicht leicht, sie bei der Sache zu halten. Aber schließlich hat sie es doch geschafft, und ich habe tatsächlich die Nähe der Gottheiten verspürt. Sie waren da, direkt vor mir, alle Fünf. Und mir wurde großer Trost von ihnen, immer schon, seit ich Trauer trage. Aber auch vorher war das so, und so wird es immer bleiben. Ich wünsche für dich, Nialli Apuilana, daß ihre Freude auch dir eines Tages zuteil werde.“ Er wies auf das Tablett und die Flasche. „Du besuchst deinen Hjjk? Bringst ihm wohl was ganz besonders Feines?“
„Gevatter!“ fuhr Nialli ihn scharf an. „Nenne ihn nicht einen Hjjk!“
„Nun, wenn er kein Hjjk ist, so klingt er doch wie einer, sagen die Leute. Er äußert sich nur in krächzenden und zischenden Lauten, oder irre ich mich?“ Onkelhaftfreundlich versuchte Thu-Kimnibol scharfe Krächzlaute tief aus seiner Kehle zu produzieren. Es war eine ziemlich ungeschickte Parodie der Hjjk-Sprache. „Also, für mich ist einer halt ein Hjjk, wenn er weiter nichts als hjjkisches Gekrächze von sich gibt. Und hjjkische Amulette am Hals hängen hat, und hjjkisch denkt und sich wie ein Hjjk kleidet und aufführt. Du weißt schon, als hätte man ihm einen langen steifen Stock durch den Rumpf getrieben.“
„Also, wenn es genügt, daß einer als Gefangener unter den Hjjks gelebt hat, um für dich ein Hjjk zu sein — schön, dann bin auch ich eine Hjjk“, sagte Nialli mit beträchtlichem Ernst. „Aber davon mal abgesehen, Kundalimon macht wirklich inzwischen recht gute Fortschritte in unserer Sprache. Es fallen ihm mehr und mehr Wörter wieder ein. Und er erinnert sich allmählich, daß er früher einmal einer von uns war. Es ist nicht anständig von dir, dich über ihn lustig zu machen. Oder über mich, auf dem Umweg über ihn.“
„Wirklich.“
„Thu-Kimnibol, warum haßt du die Hjjks so?“
„Tue ich das denn?“ Es klang, als wäre ihm noch nie ein derartiger Gedanke gekommen. „Tja, vielleicht stimmt das ja. Aber warum tu ich es dann? Laß mich nachdenken.“ In seine Augen trat ein irritiertes Funkeln. „Könnte es sein, weil sie uns gern an einem kleinen Ort der Welt zusammenpferchen möchten, wo uns doch die ganze Welt zusteht? Und ich hab was dagegen, daß sie uns derartige Beschränkungen auferlegen? He, das ist es vielleicht, ja? Oder ist es vielleicht sehr viel einfacher, was ganz Persönliches und hat mit einer Sache zu tun, daß einmal vor langer Zeit ein Trupp von Hjjks an den Ort kam, in dem ich im Norden damals lebte, genau jenen Ort, zu dem ich jetzt bald wieder reisen werde, und daß sie dort eine Handvoll unschuldiger Menschen überfallen und einige getötet haben? Mein eigener Vater war einer von denen, die sie getötet haben, weißt du. Vielleicht ist das der Grund, Nialli Apuilana, wie? Ein lächerliches kleines Ressentiment meinerseits? Unreflektierte primitive Rachegelüste?“