Thu-Kimnibol verstand jetzt, warum sein Zugführer zu Beginn der Reise die Xlendis so gaschont hatte. Es waren in der Stadt gezüchtete Tiere, gewöhnt, vor die Karossen von Prinzen gespannt zu werden, und sie hatten keine Erfahrung über weite Strecken im freien Land. Wenn man sie also gleich in den ersten Tagen, in denen es noch reichlich Futter gab, übermäßig beanspruchte, welche Reserven würden sie dann in den kommenden, kargeren Tagen zur Verfügung haben? Nein, man mußte sie schrittweise umgewöhnen, damit sie ganz abgehärtet sein würden, wenn ihnen der schwierigste Teil der Reise bevorstand. So jedenfalls lautete Esperasagiots Theorie.
Nach zehntägiger Fahrt sprach Thu-Kimnibol seinen Zugführer an: „Ich muß mich bei dir entschuldigen! Deine Weise, mit den Xlendis umzugehen, ist richtig!“
Esperasagiot gab nur ein Knurren von sich. Entschuldigungen oder Lob waren ihm schnurzegal, und alles andere auch — außer seinen Xlendis.
Sie hatten das gewaltige windgepeitschte Küstenplateau erreicht, das sich zwischen Dawinno und Yissou erstreckt. Kleine verkrümmte graue Pflanzen wuchsen hier auf einem fahlen geröllübersäten Erdreich. Den Karawanenweg entlang lagen Ruinenstädte aus der Großen Welt. Aber es war von ihnen nichts weiter erhalten geblieben als blasse weißliche Linien im Boden, kaum erkennbare Spuren von Fundamenten und Straßenbefestigungen. Hresh hatte schon die Studenten der Universität hergeschickt, um nach weiteren Relikten zu graben, doch es gab da einfach nicht mehr zu finden. Bei der ersten dieser uralten Stätten befahl Thu-Kimnibol einen Halt. Er schaute sich um. Er stellte sich vor, daß er einst eine Vielzahl von Saphiräugigen hier gelebt hatten. Mächtige reptilienhafte Fleischberge mit gewaltigen Kiefern und großen Schädeln und schweren Hinterschenkeln mochten hier langsam umhergezogen sein wie Philosophen der Peripatetikerschule, und hatten die riesigen Schwänze als eine Art Krücke zur Stütze benutzt, und in ihren vortretenden blauen Augen brannte das Feuer der Genies.
Unter anderen Umständen hätte er es sich nicht entgehen lassen, eine derartige antike Stätte nach ein paar Fundstücken als Souvenirs aus der Großen Welt für Naarinta abzusuchen. Solch kleine Geschenke hatten ihr immer Freude bereitet, ein Fragment eines fossilen Knochens, der Schnipsel von einem rätselhaften Instrument. Sie hatte die Wände ihrer Villa mit einer bizarren, ein wenig gespenstischen Kollektion von verwitterten und verbogenen antiken Bruchstücken dekoriert und manche Stunde damit verbracht, sie zu betrachten.
Jetzt aber stocherte er in traurigem Erinnern in diesem Ruinenfeld herum, vielleicht auch nur aus einer Laune heraus. Wenn man sich vorstellte, daß man dabei zufällig auf irgendein blitzendes Instrument, eine Maschine aus alten Tagen stoßen könnte, die Wunder vollbringen konnten, etwas, das einem da einfach vor der Nase auf dem Boden lag, das keinem vorher aufgefallen war, und man brauchte es nur mitzunehmen. Eine Waffe vielleicht, mit der man die Hjjks auslöschen konnte. Oder gar die Knochen eines Saphiräugigen. Keiner hatte je welche gefunden. Er bohrte mit der Stiefelspitze im kalkigen Grund. Doch er fand nichts.
Aus einer Laune heraus befahl er das Ausheben eines kurzen Grabens. Seine Leute arbeiteten eine Stunde oder länger, brachten ihm jedoch nichts als einen braunen Rostklumpen, der ihm in der Hand zu Staub zerfiel. Er warf den Fund achselzuckend weg.
Mächtig überkam ihn sodann die Erkenntnis, wie sehr alt doch die Welt sei und daß sich frühere Welten wie ein durchsichtiger Mantel, wie eine Kruste um die jetzige schlossen.
Es gab hier verwischte Echos der Geschichte, auch der verlorenen Zauber — und der noch lebendigen; doch sie entzogen sich seinem Zugriff. Eine bedrückende Schwermut bemächtigte sich seiner immer stärker. Sein Geist weilte bei der Großen Welt und allem, was sie bedeutet hatte. Warum war sie trotz all ihrer Größe untergegangen? Warum starben große Kulturen — genau wie der einzelne lebendige Mensch?
Die Unzulänglichkeit seines Wissens kam ihm bitter zu Bewußtsein; ja, die Mangelbehaftetheit seines Geistes schlechthin. Hresh kennt sich mit solchen Dingen aus, dachte Thu-Kimnibol. Und wir sind von einem Fleisch und Blut, er und ich, oder doch so ziemlich, und dennoch weiß er alles, und ich — ich weiß gar nichts! Ich bin bloß der große starke Thu-Kimnibol, den manche anderen für dumm halten, obschon ich das gar nicht bin. Unwissend, ja. Aber nicht dumm.
Ich muß mit Hresh reden, sobald ich zurück bin.
„Ich frage mich, wie es möglich ist“, sagte er zu Simthala Honginda, seinem Ersten Botschaftssekretär, „daß Vengiboneeza all die vielen Jahre überdauert hat, oder doch immerhin zu einem guten Teil, immerhin soweit, daß wir einziehen und uns dort niederlassen konnten. Und hier ist von den alten Städten nichts übrig als Flecken von Rost und Staub.“
Simthala Honginda war ein Koshmariblütiger, drahtig und von hitzigem Temperament, ein Mann mit hochreichenden Familienverbindungen; ältester Sohn Boldirinthes und Staips, durch seine Partnerschaft mit Husathirn Mueris Schwester Catiriil zudem noch mit der Torlyri-Linie verknüpft. Jetzt kickte er träge mit dem Fuß gegen die Erde. „Vengiboneeza war eine Stadt der Saphiraugen. Und diese ollen Krokodile hatten gescheite Maschinen, die für sie die ganze Arbeit verrichteten, sagt mein Vater. Und diese Maschinen sind dort geblieben und haben noch Tausende von Jahren, nachdem der Lange Winter alle Saphiräugigen ausgelöscht hat, alles immer weiter gewartet und repariert.“
„Das müssen aber wirkliche Wunderdinger gewesen sein, wenn sie so lange durchhalten konnten.“
„Die Saphiräugigen hatten Maschinen, die ihre Maschinen reparieren konnten. Und solche, die konnten die Reparaturmaschinen der andern Maschinen reparieren. Und so weiter.“
„Aha. Ich verstehe.“ Thu-Kimnibol kratzte mit dem Absatz eine komische Fratze in die trockne Erde. „Und hier? Hier hatten sie keine solchen Maschinen, meinst du?“
„Vielleicht war es eine Stadt der Vegetabilischen. Die müssen sehr zart gewesen sein, dieses Pflanzenvolk. Die sind damals wohl erfroren und verdorrt und wurden vom Winde verweht, als die Kälte kam, genau wie ihre Städte. Vermute ich. Vielleicht war es auch eine Stadt der Menschlichen. Aber die Menschen entziehen sich unserem Begriffsvermögen. Vielleicht lag ihnen nichts daran, sich solch dauerhafte Städte zu errichten wie die Saphiräugigen. Es könnte sein, daß ihre Städte weiter nichts waren als Gebilde aus Dunst und Hauch, und als sie fortgingen, blieb nichts von ihnen als eine schwache Ahnung von ihren Städten. Aber wie soll ich da was Verbindliches sagen? Es ist doch alles schon so unendlich lange her, Thu-Kimnibol.“
„Ja, so ist es wohl.“ Er kniete nieder, schaufelte mit cbr Hand ein Häufchen Erde auf und warf es in den Wind. „Hier ist ein elender und trauriger Ort. Für uns gibt es hier nichts zu finden. Wir vergeuden nur unsere Zeit, wenn wir hier verweilen.“
Und er befahl den Aufbruch der Karawane. Er stierte trüb voraus über das dürre fahlgelbe Land und spürte, wie er tiefer und tiefer in eine für ihn wesensfremde düster-gereizte Stimmung versank.
Seit seiner Kindheit wußte er, daß es vor der gegenwärtigen Welt eine andere gegeben hatte, in der die ganze Erde ein leuchtendes Paradies gewesen war und in der sechs sehr unterschiedliche Rassen prächtig und im Überfluß zusammen hier lebten. Groß-Vengiboneeza war damals ihre Hauptstadt, so stand es in den Chroniken. Er hatte es nie selber gesehen, doch sein Bruder Hresh hatte ihm davon erzählt. Und in Thu-Kimnibols Denken waren all die wundersamen Beschreibungen seitdem unauslöschlich verhaftet geblieben: die himmelhohen Türme, türkisblau und rosa und schillerndviolett, die auf irgendeine Weise aus der fernen Antike überdauert hatten, und alle die wundersamen Maschinen, die man in ihnen noch finden konnte. Was für Wunder, was für erstaunliche Dinge! In jenen uralten Tagen, da die Welt im Besitz der langsamen, schwerfälligen Reptilienrasse der Leuchtend-Saphiräugigen war, deren Hirn von solch starker Intelligenz glühte, war das VOLK — oder die Geschöpfe, aus denen eines Tages das VOLK werden sollte, nichts weiter gewesen als ausgelassen tobende Dschungeltiere. Und Vengiboneeza war der Nabel und die Nabe des Kosmos, und Reisende aus vielen Ländern kamen zu Besuch, sogar — auf zauberische Weise — Gäste von anderen Sternen.