Sie stürmte aus dem Raum.
Er saß erstarrt eine Weile da, während seine Rute erschlaffte. Lange brütete er dumpf darüber nach, wieso er dermaßen schamlos hatte sein können. Wie konnte ich bloß so idiotisch sein, grübelte er.
Auch wenn sie hier angetanzt kam, mit nichts weiter am Leib als Bändern und einer Schärpe. Auch wenn sie dich mit diesem warmen zerschmelzenden Lächeln der Dankbarkeit angestrahlt hat. Aber ihre Zartheit, ihr Duft hatten ihn überwältigt, die Nähe — und seine eigene närrische Selbstüberheblichkeit. Aus all diesen Gründen hatte er sich zu einem Übergriff in einem Bereich hinreißen lassen, der für ihn tabu hätte bleiben sollen. Er überlegte, wie sehr er sich damit selbst geschadet haben konnte. Vielleicht hatte er sich ja die Karriere ruiniert? Eine ungewohnte Furcht ließ ihn erzittern.
Dann Zorn, wilder zielloser Zorn gegen das Universum ganz allgemein, der in ihm aufquoll und die Furcht vertrieb. Er brüllte seinem Assistenten im Flur zu: „Bringt mir meinen Bruder Eluthayn her!“
Der junge Wachsoldat kam lässig und mit unbekümmerter Miene herein. Doch das änderte sich, sobald er das Gesicht seines älteren Bruders sah.
Kalt fuhr Curabayn Bangkea ihn an: „Du Schwachkopf! Stimmt es, daß du versucht hast, die Tochter des Häuptlings zu vergewaltigen?“
„Vergewaltigen? Was quatschst du da, Mann?“
„Sie war grad hier und hat ausgesagt, daß du sie belästigt hast. Ihr obszöne Anträge gemacht hast. Sie hat mich wütend abgekanzelt, du sabbernder kleiner Mistbock. Ich hab sie zu beruhigen versucht, und vielleicht ist mir das gelungen. Vielleicht nicht. Bis sie damit fertig ist, bricht sie mir vielleicht das Genick, genau wie dir. Was — in Nakhabas Namen — hast du bloß gemacht, he? Sie am Hintern begrapscht? Ihre Brust gedrückt?“
„Ich hab ihr doch bloß einen ganz unschuldigen kleinen Vorschlag gemacht, Bruder. Also, vielleicht nicht ganz unschuldig, aber doch nur im Scherz. Da stand sie vor mir, fast nackt, wie sie halt die ganze Zeit herumläuft, das weißt du ja, und wollte zu dem Jungen rauf, der von den Hjjks gekommen ist, und ich hab irgendwie was gesagt, daß ich ebenfalls nichts dagegen haben würde, mit ihr ’ne Weile allein in einem Zimmer zu sein. Mehr nicht.“
„Mehr war da nicht?“
„Ich schwör es dir bei unsrer Mutter. Bloß ’ne ganz kleine Anmache, weißt du, nichts Ernstes — allerdings war ich bestimmt nächsten Moment zur Sache gekommen, sag ich dir ganz ehrlich, wenn sie angebissen hätte. Bei diesen Hochgeborenen weiß man ja nie. Aber sie hat glatt durchgedreht. Fängt an zu geifern und zu kreischen. Sie hat mich angespuckt, Curabayn.“
„Angespuckt?“
„Direkt ins Gesicht, hier. Ein dicker saftiger Speichelbrocken war das, und ich bin mir stundenlang ganz dreckig vorgekommen. So, wie die getobt hat, hätte man glauben können, daß ich sie bis in den Grund ihrer Seele beleidigt habe. Mich anzuspucken, wie wenn ich ein Tier war — oder schlimmer als ein Tier, Bruder! Was bildet die sich denn ein, wer sie ist?“
„Sie ist die Tochter des Häuptlings, und das ist nun mal Tatsache. Und des Chronisten“, sagte Curabayn Bangkea mit Nachdruck.
„Es ist mir egal, von wem sie die Tochter ist. Sie ist auch bloß eine Schlampe, die die Beine breitmacht wie die andern alle, Bruder.“
„Vorsicht! Es ist gefährlich, Hochgeborenen was Übles nachzusagen, Eluthayn.“
„Was denn für üble Nachrede? Ist die denn solch ein Muster an Tugendhaftigkeit? Sie und der Junge im Mueri-Haus, die treiben es miteinander wie Xlendis in der Brunft. Von dem läßt sie sich stundenlang ficken, Bruder!“
Curabayn erhob sich mit einem überraschten Grunzen von seinem Stuhl. „Was war das? Was hast du da gesagt?“
„Bloß die Wahrheit. Als sie mich da angespuckt hatte, bin ich raufgeschlichen und hab an der Tür gehorcht, ob die wirklich ein Recht hat, so großmächtig und erhaben zu tun. Und da hab ich gehört, wie sie drauflos nagelten. Auf dem Fußboden noch dazu — wie die Tiere. Ich bin ganz sicher. Außerdem, der Lärm, den sie machten, das Grunzen und Ächzen, war eindeutig. Und inzwischen hab ich das noch ein paarmal gehört. Glaubst du im Ernst, Hresh wäre erfreut, wenn er wüßte, daß sie mit dem Kerl kopuliert? Oder der Häuptling, wenn sie es wüßte?“
Die Worte seines Bruders durchbohrten Curabayn wie eine Lanze. Dadurch war die ganze Situation völlig verändert. So, sie kopulierte also mit Kundalimon. Ging es um nichts weiter bei diesen gemütlichen kleinen Begegnungen? Dann war er in Sicherheit, und Eluthayn auch. Denn warum sollte nicht der Wachhauptmann (oder sogar sein blöder jüngerer Bruder) ebenfalls ihre Dienste der hochwohlgeborenen Nialli Apuilana für ein bißchen Kopulationsspaß anbieten dürfen, wenn sie sich bereitwillig mit einem Schwanz aus dem Hjjk-Nest auf dem Boden herumwälzte, der bloß klickend und schnarrend reden konnte?
Streng fragte er: „Bist du dessen absolut sicher?“
„Bei der Seele unsrer Mutter, ja.“
„Gut. Sehr gut. Was du mir grad erzählt hast, wird sehr nützlich sein.“ Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen, saß eine Weile vollkommen still da und wartete, bis sich der Stress dieses Morgens verflüchtigt hatte. Schließlich sprach er: „Es ist dir doch klar, daß ich dich zu einer anderen Wache einteilen muß, um sie zufriedenzustellen. Das ist dir natürlich spinnenfurzegal. Und wenn du ihr auf der Straße begegnen solltest, dann sei um Yissou willen demütig und tief respektvoll. Verneige dich vor ihr, schlag die Heiligen Zeichen, knie hin und küsse ihr die Zehen, wenn nötig. Nein, das lieber doch nicht. Küsse sie nirgendwohin. Aber zeige Respekt. Du hast sie tödlich beleidigt, und sie hat Macht über uns, und das müssen wir berücksichtigen.“ Curabayn grinste. „Aber jetzt, jetzt glaube ich, auch ich habe ein bißchen Macht über sie. Und das dank dir, du blöder geiler Bock.“
„Möchtest du mir das erklären, Bruder?“
„Nein. Verdrück dich jetzt von hier! Und sei in Zukunft zurückhaltender bei hochgestellten Weibern. Steck deinen Schwanz sonstwo rein, Kleiner. Denk immer dran, wer und was du bist.“
„Aber ins Gesicht hätte sie mir nicht spucken müssen, Bruder“, sagte Eluthayn trotzig.
„Weiß ich, Junge. Aber sie ist eben was Besseres, und die denken eben anders über sowas.“ Er machte scheuchende Handbewegungen vor dem Gesicht seines Bruders. „Also, verschwinde jetzt, Eluthayn. Verzieh dich!“
Das Landschaftsbild änderte sich immer wieder auf Thu-Kimnibols Nordlandfahrt zur Stadt Yissou. Inzwischen zog die Karawane durch weite für die westlichen Seewinde offene Ebenen, die Luft war feucht und salzig, und an jedem Strauch und Busch hingen blaugrüne Schuppenmoosbärte. Und dann wieder führte die Straße durch breite, flache totenstille Trockentäler im Schutz von kahlen steilen Bergketten zur See hin, und auf der sandigen Erde lagen die bleichenden Schädel unbekannter Tiere. Dann drangen die Fahrenden in bewaldetes Hochland vor, wo sich verkrümmte blattlose Bäume mit fahlen spiraligen Stämmen an gefährlich steil überhängende Vorsprünge von schwarzer Erde klammerten; und aus dem noch höheren Land im Osten hörte man fremdartiges Geheul und Pfeifen herabwehen.
Mit Betroffenheit spürte er in sich ein tiefes Bewußtsein wachsen: für die gewaltige Weite der Welt, für die Größe und das Gewicht der unermeßlichen Kugel, über deren Oberfläche er, Thu-Kimnibol, dahinkroch.
Ihm war, als zöge jede Handbreit Erde, die er beschritt, in sein Inneres ein und werde Teil von ihm: als schlinge er sie in sich hinein, verzehrte sie und machte sie sich für alle künftige Zeit zu eigen. Dies trieb ihn nur um so heftiger vorwärts und weiter voran über das Antlitz der Erde. Er erkannte, daß er sich in diesem Punkt von dem Rest des VOLKS unterschied, den Alten, die noch im Stammeskokon geboren waren und die, wie er argwöhnte, immer noch heimlich den Drang verspürten, sich zurück an einen engen, warmen, sicheren Ort zu verkriechen und die Luke hinter sich zu versiegeln. Aber nicht so er. Nein, er nicht! Mehr als wohl jemals zuvor und tiefer begriff er nun diesen Hunger in seinem Bruder Hresh: zu wissen, zu entdecken, zu durchschauen.