Er war bereits einmal durch diese Landstriche gezogen. Damals war er achtzehn und auf der Flucht nach Süden von Yissou nach Dawinno. Aber er hatte nur noch schwache Erinnerungen an diese frühere Fahrt. Die meiste Zeit war er in vollem Galopp geritten, den Kopf über den Hals seines Xlendi gebeugt, von Wut und bitterem Gram vorangehetzt. Dieser erbarmungslose, wuterfüllte Ritt ruhte in seinem Gedächtnis jetzt, über zwei Dekaden später, nur mehr als ein harter verkapselter Knoten, der allerdings immer noch schmerzte, wenn man ihn drückte — wie die Erinnerung an einen schrecklichen Verlust oder an eine tödliche Krankheit, die man nur unter schwerer seelischer Belastung überstand. Er rührte an dies alles nicht mehr, als unumgänglich war.
Inzwischen hatten sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht und fuhren durch Tributarländer Salamans. Thu-Kimnibols Laune war in diesen Tagen meist umdüstert. Die Wende war eingetreten, als sie diese Ruine aus der Großen Welt passierten, was Erinnerungen an Naarinta in ihm wachgerufen hatte und diese düsteren unfruchtbaren Gedanken an die ferne Vergangenheit. Nun aber hatten sich die Erinnerungen an die verschwundenen Tage seines persönlichen Lebens lastend über ihn gesenkt: an verpaßte Gelegenheiten, falsche Richtungen, die er eingeschlagen hatte, an den geliebten ihm entrissenen Gefährten. seine Naarinta.
Er gab sich große Mühe, seinen Seelenzustand vor den anderen zu verbergen. Doch als dann die Karawane aus dem Bergland in eine fruchtbare Ebene hinabstieg, die von zahlreichen hurtigen Bächen und eilenden Flüssen durchzogen war, sprach Simthala Honginda brüsk und unaufgefordert: „Mein Prinz, ist es der Gedanke an die Wiederbegegnung mit Salaman, was dich so tief bedrückt?“
Bestürzt blickte Thu-Kimnibol auf. War er denn tatsächlich so leicht durchschaubar?
„Warum sagst du das?“
„Ihr beide wart einmal erbitterte Feinde. Das weiß man doch!“
„Nein, Freunde waren wir wohl nie, glaube ich. Und eine Zeitlang stand es zwischen uns gar nicht zum besten. Aber das ist doch Ewigkeiten her!“
„Aber ich glaube, du haßt ihn noch immer.“
„Ich habe in fünfzehn Jahren kaum jemals einen Gedanken m ihn verschwendet. Nein, Salaman, das ist abgetan und eine erledigte Geschichte für mich.“
„Ja, sicher. Ja, gewiß wird das wohl so sein.“ Und dann, mit übertriebenem Takt: „Aber je mehr wir uns Yissou nähern, desto tiefer versinkst du in düsteren Gram.“
„Düster? Gram?“ Thu-Kimnibol zwang sich ein Lachen ab. „Du meinst also, ich versinke in Trübsal, Simthala Honginda?“
„Das würde ein Blinder sehen!“
„Schön, falls es stimmt, so hat es nicht das geringste mit Salaman zu tun. Ich habe vor kurzem einen schweren persönlichen Verlust erlitten. Oder hast du das bereits vergessen?“
Simthala Honginda tat zerknirscht. „Aber ja, ja natürlich. Vergib mir, Prinz! Und mögen die Götter der Edlen Naarinta Frieden gewähren!“ Er schlug hastig das Zeichen Mueri-der-Trösterin.
Nach einer langen Pause sagte Thu-Kimniboclass="underline" „Es wird schon seltsam sein, Salaman nach so langer Zeit wiederzusehen. Aber Probleme, nein, es wird keine geben. Was kann das heute schon noch für eine Rolle spielen, wie giftig wir früher, vor so langer Zeit, einmal aufeinander waren? Worum es geht, das sind die Hjjks! Und in dem Punkt denkt Salaman genauso wie ich. Es war uns von Anfang an vom Schicksal bestimmt, daß wir Seite an Seite gegen sie kämpfen. Und bald wird es so sein. Das Bündnis, das wir aufbauen wollen, das ist es, was zählt. Wozu sollte er uralten Groll ausgraben wollen? Oder ich?“
Er wandte das Gesicht wieder dem Aussichtsfenster zu und setzte so dem Gespräch ein vorläufiges Ende. Später streckte er die Hand hinaus und signalisierte Esperasagiot, daß die Karawane anhalten solle. Die Xlendis mußten hier getränkt werden; und überdies war es ein angenehmer Ort, um das Abendmahl einzunehmen.
Das vor ihnen liegende Land war üppig-grün. Ein Gewirr von Wasserläufen schimmerte wie geschmolzenes Silber im Nachmittagsschein. Guter, ertragreicher Boden hier. Mit etwas Drainage würde das hier vielleicht den Bedarf einer Großstadt wie Dawinno decken. Thu-Kimnibol überlegte, wieso Salaman diesen Distrikt nicht längst erobert und agrarisch nutzbar gemacht hatte. Er lag doch gar nicht dermaßen weit südlich von Yissou.
Na ja, typisch Salaman, dachte er verächtlich, solch einen fruchtbaren Landstrich ungenutzt vergammeln zu lassen. Eine derartige Zentralisierung und Expansionsverzicht, damit er sich hinter seiner grotesken Mauer verschanzen konnte.
Simthala Honginda hat recht, sagte er sich: Du haßt den Kerl immer noch, was?
Nein. Aber nicht doch, hassen war ein viel zu heftiger Ausdruck. Aber entgegen allen Beteuerungen, die er Honginda um die Ohren geschmeichelt hatte, er hegte doch den leisen Argwohn, daß die uralten Ressentiments immer noch heimlich in ihm weiterbrodelten.
In Dawinno lief die offizielle Version um, daß er ‚irgendwie‘ Salaman den Thron von Yissou habe streitig machen wollen. Das stimmte natürlich ganz und gar nicht. Thu-Kimnibol hatte schon sehr früh erkannt, daß er nie der Beherrscher der Stadt sein würde, die sein Vater begründet hatte, nachdem sein Vater dahingegangen war. Er war noch viel zu jung gewesen, als Harruel in der Hjjk-Schlacht fiel, um die Königsherrschaft zu übernehmen. Also war Salaman damals der einzige akzeptable Thronkandidat gewesen. Und sobald er einmal an der Macht geleckt hatte, war es kaum zu erwarten, daß er sie aus reiner Herzensgüte wieder aufgeben würde, sobald Thu-Kimnibol seine Volljährigkeit erreicht hatte. Das war allen und jedem klar. Thu-Kimnibol war von Anfang an willens, Salaman als König anzuerkennen. Und verlangte als Gegenleistung nichts weiter als ein wenig Achtung und Respekt, wie sie ihm als dem Sohn des Ersten Königs der Stadt gebührten: angemessene Privilegien, Vorzugsstellung, ein anständiges Palais, ein erhöhter Vorzugsplatz neben Salaman bei offiziellen Staatsfeierlichkeiten.
Dies hatte Salaman ihm gewährt, für einige Zeit. Bis dann der König in seinen mittleren Lebensjahren sich zu verändern begann, bis er immer reizbarer wurde und sein Gemüt unruhig, und er ein neuer umdüsterter Salaman war, bitter und voll Argwohn.
Erst dann gewann der König die Erkenntnis, daß Thu-Kimnibol Ränke wider ihn schmiede. Doch dieser hatte ihm nie einen Anlaß für solche Vermutungen geboten. Vielleicht hatte ja ein Feind dem König Lügenmärchen ins Ohr geflüstert. Wie dem immer, die Beziehung zwischen ihnen verschlechterte sich danach rasch. Es hatte Thu-Kimnibol nicht gestört, daß Salaman ihm seinen eigenen Sohn, Chham, vorzog, denn dies war ja nur natürlich. Dann aber wurde der zweitgeborene Sohn an der königlichen Tafel über ihn gesetzt, und dann auch der dritte, und als Thu-Kimnibol sich eine der Töchter des Königs zur Gefährtin erbat, wurde er abgewiesen; und dem folgten weitere Demütigungen. Er war ein Königssohn; er durfte sich eine bessere Behandlung von Salaman erwarten. Der letzte Zündfunken war dann eine Geringfügigkeit protokollarischer Art gewesen, so unbedeutend, daß Thu-Kimnibol sich heute nicht mehr erinnern konnte, um was es gegangen war. Jedenfalls gerieten sie in lauten Streit darüber, und er bedrohte den König mit der Faust und hätte ihn beinahe geschlagen. Er wußte, dies war sein Ende in der Stadt Yissou. In selbiger Nacht noch floh er und war nie wieder zurückgekehrt.