Zu Simthala Honginda sprach er: „Da schau, Dumanka hat uns etwas fürs Abendmahl erlegt.“
Der Quartiermeister war von seinem Wagen gestiegen und hatte unten, südlich vom Weg, am Ufer eines Baches mit dem Speer ein Tier erbeutet und schickte sich gerade an, ein zweites zu fangen.
Thu-Kimnibol war froh über diese Ablenkung. Das Gespräch hatte eine bedrückende Wendung genommen und alte Erinnerungen an schwierige Zeiten in ihm wachgerufen — und er hatte sich in Widersprüchen verfangen. Er erkannte nun, daß er zwar seinen alten Streit mit Salaman beiseitelegen konnte, daß es ihm aber doch, entgegen allen Beteuerungen, schwerer fallen würde, zu vergeben und zu vergessen.
Er legte die Hand an den Mund und rief: „Was jagst du uns da unten, Dumanka?“
„Caviandis, mein Prinz!“ Der Quartiermeister, ein muskulöser, wenig zu Unterwürfigkeit neigender Mann koshmarischer Abstammung, trug einen zerbeulten glanzlosen Benghelm lässig über den Schultern. Er hatte gerade ein zweites Tier erjagt und hielt nun stolz mit beiden Händen die purpur-gelben Körper in die Höhe. Schlaff hingen sie herab, die stämmigen Ärmchen baumelten, und hellrot sickerte das Blut aus ihrem glatten Fell. „Frisches Fleisch — mal ’ne Abwechslung!“
An Thu-Kimnibols Seite stand Pelithhrouk, ein junger adliger Offizier und Günstling Simthala Hongindas. Er fragte: „Ist es recht, daß wir sie töten? Was meinst du, Prinz?“
„Warum denn nicht? Es sind doch nur Tiere. Fleisch, weiter nichts.“
„Auch wir waren einst nur Tiere“, sagte Pelithhrouk.
Thu-Kimnibol fuhr erstaunt zu ihm herum. „Was sagst du da? Daß wir nicht besser sind als Caviandis?“
„Ganz und gar nicht. Ich meine nur, daß die Caviandis vielleicht mehr sind, als wir glauben.“
„Das ist keck gesprochen“, sagte Simthala Honginda betreten. „Das gefällt mir nicht besonders.“
„Habt ihr je ein Caviandi genau aus der Nähe angesehen?“ fragte Pelithhrouk mit einer verzweifelten drängenden Hast. „Ich ja. In ihren Augen leuchtet eine Seele. Ihre Hände sind so menschenhaft wie unsere. Ich glaube, wenn wir mit dem Zweitgesicht ihr Bewußtsein sondieren würden, wir wären überrascht von dem Intelligenzgrad, den wir dort finden würden.“
Simthala Honginda schnaubte: „Ich schließe mich Thu-Kimnibol an, es sind weiter nichts als Tiere.“
Doch Pelithhrouk hatte sich zu weit vorgewagt, um aufzugeben. „Aber intelligente Tiere! Sie warten nur auf die Berührung, den Hauch, um zur nächsten Stufe aufzusteigen, das jedenfalls glaube ich. Statt sie zu jagen und zu verzehren, sollten wir sie mit Achtung behandeln — sie sprechen lehren, vielleicht auch lesen und schreiben, wenn sie dazu fähig sind.“
„Du hast den Verstand verloren“, sagte Simthala Honginda. „Den Keim zu diesem Aberwitz mußt du von Hresh aufgeschnappt haben.“ Er blickte mit einem angewiderten Ausdruck zu Thu-Kimnibol empor, als wollte er sagen, daß ein dermaßen absurdes Gerede aus dem Munde eines jungen Menschen, dem er Mentor gewesen, ihm höchst peinlich sei (was wohl wirklich der Fall war), und sprach: „Bis zum heutigen Morgen habe ich diesen Jungen für einen unsrer tüchtigsten Beamten gehalten. Aber jetzt sehe ich.“
„Nein“, unterbrach Thu-Kimnibol mit erhobener Hand. „Was er sagt, ist interessant. Aber es ist wirklich noch zu früh, daß wir uns Gedanken darüber machen sollten, wie wir anderen Geschöpfen das Lesen und Schreiben beibringen“, sagte er lachend zu Pelithhrouk. „Zuerst müssen wir unser Leben besser und sicherer organisieren, ehe wir uns daranmachen können, den Geschöpfen der Wildnis die Zivilisation beizubringen. Vorläufig jedenfalls sind die Caviandis leider noch auf sich selber angewiesen, und vorläufig sind sie Tiere und werden es auch bleiben müssen. Und wenn du mir sagst, auch wir sind Tiere, schön, so mag es so sein. Auch wir sind Tiere. Aber hier und heute gehören wir zu den Fressern, und sie eben zu denen, die gefressen werden, und da liegt der ganze Unterschied.“
Dumanka war inzwischen heraufgekommen und hatte dem Gespräch mit ausdrucksloser Miene zugehört. Nun warf er die Caviandisleichen Thu-Kimnibol vor die Füße. „Ich geh und mach ein Feuer, Prinz. Wir können in einer halben Stunde schmausen.“
„Wohlgetan“, sagte Thu-Kimnibol. „Und ein Ende mit dem ganzen Gerede. der Fünffaltigkeit sei Dank!“
Das Caviandifleisch schmeckte köstlich, o ja. Thu-Kimnibol verzehrte seinen Anteil ohne Skrupel, auch wenn sekundenkurz der Gedanke in ihm aufzuckte, daß Pelithhrouk möglicherweise recht haben könne und daß diese geschmeidigen kleinen Kreaturen, die als Fischjäger an schnellfließenden Gewässern hausten, in Wahrheit vielleicht intelligente Wesen waren, eine gesellschaftliche Organisation besaßen, eine Sprache und Namen und Götter, ja sogar eine eigene Geschichte. Was wußte man schon über sie? Wer vermochte schon zu bestimmen, welche Lebewesen bloße beseelte Tiere, Animalia, waren und welche zu den Intelligenzbegabten gerechnet werden mußten? Er selber jedenfalls nicht. Und so verdrängte er den Gedanken rasch. Allerdings fiel ihm sehr wohl auf, daß Pelithhrouk seine Portion Fleisch unberührt ließ. Er hat immerhin den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, dachte Thu-Kimnibol. Das spricht stark für den Jungen.
Tags darauf ließen sie den Gürtel der Bäche und Marschlande hinter sich und drangen in ein trockeneres Gebiet mit üppigem dunklen Erdreich und Grasmatten vor. In der Dämmerung sahen sie im Norden Laternenbäume wie Leuchttürme aufflammen. Dies war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, daß die Karawane sich der Stadt näherte.
Die Laternenbäume waren von Tausenden von kleinen Vögeln bewohnt, die vermittels farbiger Stellen an Hals und Brust ein kaltes, aber helles Licht auszustrahlen vermochten. Unermüdlich blinkten sie ihre hellen Signale, die über weite Entfernung hin sichtbar waren, die ganze Nacht hindurch in stetigem pulsierenden Rhythmus. Tagsüber verhielt sich das winzige stumpffarbige Federvieh reglos in den Nestern auf. Niemand wußte, warum sie sich diese speziellen Bäume als Wohnsitz wählten. Sobald sie sich jedoch einmal solch eines Baumes bemächtigt hatten, gaben sie ihn anscheinend nie mehr auf. Auf diese Weise wurden die Laternenbäume zu geschätzten nächtlichen Wegzeichen, zu verläßlichen Landmarken und vertrauten Orientierungspunkten für den Reisenden.
Hinter diesen Laternenbäumenhainen lagen die Farmen von Yissou. Und wie im Hinterland von Dawinno vor vielen Wochen kamen auch hier die Bauern stumpf und mürrisch und stellten sich an ihren Gemarkungssteinen auf, um die vorbeiziehende Karawane anzuglotzen.
Das Land stieg inzwischen zu der steilen Erhebung im Süden der Stadt an, und dahinter lag dann die Stadt Yissou selbst, behaglich in den Krater gebettet, den der Todesstern geschlagen hatte.
Sie zogen weiter und dann den äußeren Kraterhang hinauf. Kurz darauf zwang sie der gewaltige schwarze Schutzwall zum Halten, eine Mauer um Yissou, die den ganzen Horizont zu verdecken und sich zu fast unglaublicher Höhe emporzuwölben schien.
Der Anblick verschlug Thu-Kimnibol den Atem. Das war so ziemlich das Erstaunlichste, was er je zu sehen bekommen hatte.
Er erinnerte sich, wie die Mauer vor Jahren gewesen war: vier oder fünf massige Lagen massiver Kantquader. Und wie stolz war Salaman gewesen, als der Neue Wall endlich die Stadt von allen Seiten her umringte und man endlich die alte hölzerne Palisadenbefestigung abbrechen konnte! Natürlich wußte Thu-Kimnibol, daß Salaman seinen Wall Jahr um Jahr unablässig weiter erhöht hatte. Doch er hatte nie erwartet, eines Tages vor so etwas Grandiosem zu stehen. Das Bollwerk wuchtete sich beängstigend und als überwältigende Masse in die Höhe und war eine schreckliche Aufschichtung von schwarzem Gestein, die fast den Himmel verdeckte.
Vor welchem Feind fürchtete sich Salaman, daß er einen solchen Schutzwall nötig fand? Was für düstere Dämonen hatten sich in seiner Seele eingenistet, in den Jahren seit ihrer letzten Begegnung?