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Auf der Mauerkrone standen in enger Formation etwa tausend Speerkrieger. Ihre Lanzen hoben sich stachelscharf gegen den hellen Himmel ab. Sie standen starr, fast bewegungslos. Und die Höhe der Mauer machte sie zu Zwergen: Sie sahen kaum größer aus als Ameisen.

Unterhalb von ihnen war ein gewaltiges mit Erzriegeln armiertes Holztor. Als die Karawane sich näherte, öffnete es sich mit lautem Knarren und Quietschen, und ein halbes Dutzend (nicht eine mehr) unbewaffneter Gestalten trat daraus hervor und begab sich etwa hundert Schritt weit ins offene Gelände vor der Mauer. Das Tor schloß sich hinter ihnen. Anführer der Gruppe war ein untersetzter, breitschultriger Mann, den Thu-Kimnibol zunächst für Salaman selber hielt, bis ihn ein zweiter Blick belehrte, daß der Mann viel zu jung war, als daß er der König in Person hätte sein können. Einer der Söhne, zweifellos. War es Chham? Oder vielleicht Athimin? Thu-Kimnibol fühlte, wie bei diesem Anblick die alte Wut wieder in ihm heraufzubrodeln begann, als er dachte, wie diese Salamanssöhne ihn vor langer Zeit vertrieben hatten.

Er stieg aus, trat vor und hob die Hand zur Friedensgeste.

„Ich bin Thu-Kimnibol“, brüllte er. „Der Sohn Harruels und Prinz der Stadt des Dawinno.“

Der Breitschultrige nickte. Wirklich, er sah dem Salaman seiner Erinnerung unheimlich ähnlich: die robusten Arme, die kurzen stämmigen Beine, die wachsamen, wißbegierigen Augen, weit auseinanderstehend in dem runden, aber kräftig gezeichneten Gesicht. Nein, der Mann war zu jung, viel zu jung, als daß er Chham oder Ahtimin hätte sein können. „Hier steht Ganthiav, Sohn des Salaman. Mein Vater, der König, entbietet dir durch mich den Willkomm und heißt mich, dich in die Stadt zu geleiten.“

Also einer der jüngeren Söhne. Vielleicht war er zur Zeit der Flucht Thu-Kimnibols noch nicht einmal geboren. Aber bedeutete die Entsendung dieses Ganthiav zum Empfang möglicherweise irgendwie eine versteckte Beleidigung?

Nur die Ruhe bewahren, mahnte sich Thu-Kimnibol. Gleichgültig, was passiert, laß dich nicht aus der Ruhe bringen!

„Wenn du mir folgen möchtest?“ bat Ganthiav höflich, als das Tor sich erneut zu öffnen begann.

Thu-Kimnibol warf noch einmal einen Blick zur Mauerkrone und zu der erstaunlichen Schar regloser Bewaffneter hinauf. Dort oben gab es auch eine Art Pavillon, einen kuppelförmigen Auswuchs aus glatteren, weniger schwarzen Steinen, eher grauen, als denen der Mauerkonstruktion. Durch ein Langfenster hatte man Ausblick über die Ebene vor der Mauer. Flüchtig haftete Thu-Kimnibols Blick auf diesem Auslugfenster. Er sah den Schatten einer Gestalt dahinter, und dann trat diese Gestalt ins Licht, und Thu-Kimnibol sah in die unverwechselbaren grauen Augen Salamans, des Königs von Yissou, die ihn düster und unversöhnlich und kalt musterten.

4. Kapitel

Das Opfer

Auf spezielle Anordnung Husathirn Mueris, den Curabayn Bangkea ersucht hatte, war Kundalimon vom Hausarrest entbunden worden und durfte sich frei in der Stadt bewegen. Wann immer es ihm beliebte, konnte er die kleine Zelle im Mueri-Haus verlassen und frei durch alle Stadtteile streifen, auch die heiligen Stätten und Amtsgebäude besuchen. Nialli hatte ihm dies genau erklärt: „Keiner wird dich anhalten. Niemand dir was Böses tun.“

„Auch wenn ich in die Königinkammer gehe?“

Sie lachte. „Du weißt doch, wir haben keine Königin.“

„Aber — deine — Mutter. Die Frau, die herrscht?“

„Ja, meine Mutter.“ Kundalimon hatte noch immer Schwierigkeiten mit Begriffen wie ‚Mutter‘ und ‚Vater‘. Derartige Sozialkonzepte der Fleischlinge begannen ihm erst allmählich begreifbar zu werden. Die ‚Mutter‘, das war der Eiproduzent. Der ‚Vater‘ war der Lebenszünder. Und Kopulieren — eben was er auf so höchstvergnügliche Weise mit Nialli Apuilana tat — war die bei den Fleischlingen angewandte Methode, um Eiern den Lebensfunken zu geben. Es war ähnlich dem Verfahren im NEST, und dennoch so anders, so grundverschieden. „Was ist mit meiner Mutter?“ fragte Nialli.

„Ist sie denn nicht die Königin der Stadt?“

„Tanianes offizieller Titel ist Häuptling, nicht Königin. Es ist ein sehr alter Titel, und er stammt noch aus der Zeit, in der wir nur ein ganz kleines Stammesvolk waren und in einem Höhlenloch in einer Gesteinswand hausten. Sie regiert die Stadt — und mein Vater und die Opferpriesterin und der ganze Rat der Prinzen beraten sie —, aber sie ist nicht unsre Königin. Nicht in dem Sinn, wie du und ich Königinlichkeit verstehen. Sie ist meine Mutter, gewiß. Doch sie ist nicht die Mutter der ganzen Stadt.“

„Wenn ich also in ihre Kammer gehe, wird mich keiner aufhalten?“

„Das kommt darauf an, was sie gerade tut. Doch normalerweise kannst du einfach zu ihr hineingehen. Du kannst überall hingehen, wo du willst. Aber sie werden dich vermutlich überwachen lassen.“

„Wer wird mich überwachen?“

„Die Stadtwachen. Sie trauen dir nicht. Curabayn Bangkeas ganze Bande. Sie glauben, du bist ein Spion.“

Er begriff nicht so recht. Vieles von dem, was Nialli zu ihm sagte, blieb ihm rätselhaft. Selbst jetzt noch, nach wochenlangen tagtäglichen Lektionen, bei denen sein Kopf von der Sprache der Fleischlinge überschwemmt wurde und er sogar bereits manchmal in ihren Begriffen, nicht denen des NESTS dachte, war ihm der Sinngehalt von Niallis Rede rätselhaft. Doch er hörte zu und mühte sich, es zu behalten, und hoffte, daß er mit der Zeit auch begreifen würde.

Jedenfalls, seine Aufgabe hier erfüllte er, und darauf kam es an. Er war gekommen, um die Liebe der KÖNIGIN zu bringen und er tat es. Zuerst Nialli Apuilana, in der diese Liebe bereits erweckt war, denn sie hatte ja bereits ihre Zeit im NEST zugebracht; aber nun, da er sich endlich frei in der Stadt bewegen durfte, brachte er diese Liebe allen andren, die noch ganz ohne NEST-Erkenntnis waren.

Er hatte damit gerechnet, daß er bei seinem ersten Ausflug allein in die Stadt Furcht haben würde. Nialli hatte ihn zwar ein paarmal ausgeführt, ihm die Haupttransversalen gezeigt und das Straßenmuster erklärt; doch dann hatte er eines Morgens beschlossen, alleine loszuziehen. Es war eine Prüfung, der er sich unterzog, um festzustellen, ob er es fertigbringen würde, mehr als nur ein paar zaghafte Schritte in die fremde Welt zu tun, ohne daß es ihn sofort wieder in die Sicherheit seines Gefängnisses zurückdrängte.

Eine so gewaltige Stadt, so viele Straßen. und überall die wimmelnden Massen von Fleischlingen! Und diese feuchtwarme klebrige südliche Luft, die sich so völlig anders atmete als die vertraute im trocknen, kühlen Norden. Die unvertrauten fremd-süßen Düfte hier. Der völlige Mangel an NEST-Bindungssicherheit. Auch die Möglichkeit, daß die Menschen an diesem Ort ihm mit Haß oder Verachtung begegnen könnten.

Doch er war völlig furchtlos. Er schritt an den schiefmäuligen, sauertöpfischen Wachen vorbei, das Katzenkopfpflaster der Minbain-Gate hinunter und stieß in einer Seitengasse, durch die er mit Nialli nicht gegangen war, auf einen offenen Markt. Er ging von Stand zu Stand, bestaunte die Berge von Früchten und Gemüsen und die hängenden Fleischviertel. Eigentlich blieb er dabei ziemlich gelassen. Und als er den Eindruck hatte, sein Ausflug hätte nun lang genug gedauert, fand er seinen Weg zum Mueri-Haus zurück ohne Schwierigkeiten.

Danach ging er fast jeden Tag aus. Noch nie war sein Leben so aufregend gewesen. Wenn er nur einfach an einer Straßenecke stehenblieb, einem Balladensänger lauschte, oder einem Glaubensprediger, oder einem anderen Verhökerer billigen Spielzeugs. Wie ganz anders war dies hier vom Leben im NEST! Er konnte in eine Garküche treten, mit staunenden großen Augen die auf der Platte brutzelnden Fleischstücke anstarren, und dann konnte er mit der Hand zeigen und lächeln, und man lächelte ihm zur Antwort entgegen, und er bekam irgendein fremdartiges, gegartes Stück Fleischlings-Nahrung gereicht und durfte das essen — wie wunderbar! Wie gestalttransformativ das doch war! Als gleite man durch einen höchst leibhaftigen Traum.