„Aber ich hätte sowas doch nie getan.“
„Du hättest es nie tun können. Chham und Athimin hatten dich nämlich die ganze Zeit unter Beobachtung. Wenn du auch nur einen Finger gegen mich erhoben hättest, sie hätten dich in Stücke tranchiert.“
Thu-Kimnibol hob den Wein an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Es war der süße starke Regionalanbau, und er hatte ihn seit vielen Jahren nicht mehr gekostet. Über den Becherrand beobachtete er den König. Außer ein paar erschöpften Tänzern des abendlichen Festes, die erschöpft wie fallen gelassene Kissen an der Wand gegenüber herumlagen, war niemand sonst bei ihnen. Lauerten die Söhne Salamans hinter den Vorhängen und schickten sich an, hervorzustürzen, um die uralte Unbill zu rächen, die er ihrem Vater zugefügt hatte? Oder würden die Tänzer plötzlich wieder lebendig werden mit Mordmessern und Würgeschlingen?
Nein, dachte er, Salaman treibt nur seine Spielchen mit mir.
„Auch du hast mich bedroht“, sprach er. „Du hast gesagt, du wirst mir jeden Rang und alle Prärogative aberkennen lassen und mich auf den Marktplatz schicken, damit ich dort die Futtertröge saubermache.“
„Aber das war doch nur im Zorn so dahingesagt. Wenn ich bei Sinnen gewesen wäre, ich hätte einen Prachtkerl von deiner Größe und Kraft zum Mauerbau verdonnert, nicht als Viehknecht oder Straßenfeger auf den Markt.“
Des Königs Augen funkelten. Er schien seine Witzigkeit ungeheuer zu genießen.
Am besten, er ignorierte die Beleidigung. Er sagte bloß: „Wieso bringst du das alles jetzt wieder hoch, Salaman?“
Salaman streichelte sein Kinn und lächelte. Dort sproßten lange weiße Haarbüschel, die ihm ein merkwürdig gutartiges, ja beinahe komisches Aussehen verliehen, das wahrscheinlich nicht in seiner Absicht lag. „Wir haben seit — na, wieviel Jahren? — zwanzig? — fünfundzwanzig? — nicht mehr miteinander gesprochen. Sollten wir da nicht wenigstens den Versuch machen und Klarheit zwischen uns schaffen?“
„Und? Tust du das? Klarheit schaffen?“
„Aber gewiß doch. Meinst du im Ernst, wir könnten das Geschehene einfach ignorieren? So tun, als wäre es nie gewesen?“ Salaman schenkte in die Weinbecher nach. Er beugte sich herüber und fixierte ihn ganz nahe. Leise fragte er: „Hast du wirklich statt meiner König werden wollen?“
„Niemals! Ich verlangte nur die Ehren, die mir als Harruals Sohn gebührten.“
„Mir hat man gesagt, du wolltest mich stürzen.“
„Wer sagte das?“
„Was spielt das für eine Rolle? Sie sind alle längst tot und vermodert. Ach ja, das war Bruikkos. Erinnerst du dich noch an den? Und Konya.“
„Ach ja. Die begannen mich zu hassen, als ich volljährig wurde, weil mein Rang höher war als der ihre. Aber was hatten die eigentlich erwartet? Sie waren einfache Soldaten, ich der Sohn eines Königs.“ „Und Minbain“, sprach Salaman weiter.
Thu-Kimnibol mußte blinzeln. „Meine Mutter?“
„Aber ja. Sie kam zu mir und sagte: Thu-Kimnibol treibt es um. Thu-Kimnibol gelüstet es nach Macht. Sie fürchtete, du könntest was Törichtes anstellen, so daß ich dich hinrichten lassen müßte, und das wäre ihr natürlich ein gewaltiger Kummer gewesen. Sie sagte zu mir: ‚Sprich mit ihm, Salaman, erleichtere seine Seele, verleihe ihm wenigstens den Schein dessen, wonach ihn verlangt, damit er sich nicht selber Schaden zufügt.‘ “
Und wieder lächelte der König.
Thu-Kimnibol fragte sich, wieviel Wahrheit an dem Ganzen war und was einfach nur düstrer verquerer Spaß. Gewiß, es war durchaus plausibel, daß Minbain besorgt war, ihr Sohn könnte sich lebensgefährlich überheben, und darum Schritte unternommen hatte, um schlimmes Unheil abzuwenden. Aber eigentlich entsprach das ganz und gar nicht ihrem Wesen. Sie hätte gewiß zuerst mit ihrem Sohn selbst gesprochen. Nun ja, leider konnte man sie ja nicht mehr fragen.
„Ich hätte nie auch nur daran gedacht, dir den Thron streitig zu machen, Salaman. Bitte, glaub mir das. Ich habe dir einen Eid geschworen — wieso sollte ich ihn brechen? Außerdem wußte ich doch recht gut, daß ich viel zu jung und hitzköpfig war, um König spielen zu können. Und außerdem, du warst doch viel zu sicher etabliert.“
„Ja, das glaub ich dir.“
„Wenn du mir die mir gebührenden Ehrentitel und Privilegien gegeben hättest, die ich haben wollte, es hätte zwischen uns nie irgendwelche Probleme gegeben. Ich sag dir das ganz ehrlich und weil es wahr ist, Salaman.“
„Ja“, sagte der König. Plötzlich klang seine Stimme ganz anders, und alle Ranküne und Schärfe war aus ihr verschwunden. „Ja, es war ein Fehler, daß ich dich so behandelte, wie ich es tat.“
Thu-Kimnibol war sofort auf der Hut. „Du redest im Ernst?“
„Ich rede immer im Ernst, Thu-Kimnibol.“
„Ja, das mag stimmen. Aber gestehen Könige jemals ihre Fehler ein?“
„Der hier tut es. Manchmal. Nicht besonders oft, aber manchmal doch. Und hier und jetzt ist so ein Anlaß.“ Salaman erhob sich, reckte sich und lachte. „Ich hatte nur vor, dich auszureizen, dich an dein Limit zu treiben — dich aus Yissou zu vertreiben, ich fand einfach, du warst zu groß für diese Stadt, ein zu potenter Rivale, der im Laufe der Jahre nur noch stärker werden würde. Das war meine Fehleinschätzung. Ich hätte dich favorisieren müssen, dich mit Ehren überhäufen, um dich so zu entwaffnen. Und deine Stärke hätte ich dann hier nutzbringend einsetzen müssen. Das habe ich später begriffen. Natürlich zu spät. Nun, lieber Cousin, du bist hier erneut herzlich willkommen!“ Und dann tauchte im Blick des Königs ein seltsamer Ausdruck auf, eine Mischung aus Belustigung und Argwohn, und er fragte: „Du bist doch nicht etwa zurückgekommen, weil du mir schließlich doch noch meinen Thron rauben willst, oder?“
Thu-Kimnibol beantwortete das mit einem eisigen Blick. Doch es gelang ihm dann doch, so etwas wie ein Kichern und ein bläßliches Grinsen zu produzieren.
Salaman stieß ihm die Hand entgegen. „Geliebter alter Freund! Nie hätte ich dich von meiner Brust vertreiben dürfen! Es erfreut mich höchlich, dich wieder bei mir zu haben. sei es auch nur kurz.“ Er gähnte. „Wollen wir uns nun vielleicht doch zur Ruhe begeben?“
„Der Gedanke ist verführerisch.“
Der König ließ den Blick über die verstreuten erschöpften Tänzer schweifen, die sich bisher nicht bewegt hatten.
„Möchtest du gern sowas in deinem Bett haben, um dich zu wärmen?“
Auch dies kam überraschend. Die Erinnerung an Naarinta, die kaum ein paar Wochen tot war, tauchte in ihm auf. Andererseits wäre es grob unhöflich, Salamans gastliches Angebot zurückzuweisen. Und was bedeutete es denn auch schon, ein Kopulationsvorgang mehr oder weniger, und noch dazu so weit von zu Hause weg? Er war müde. Er war nach dem merkwürdigen Gespräch irritiert. Die Umarmung eines jungen frischen Körpers im Dunkel der Nacht, ein bißchen heimliche Entspannung, ehe die wirkliche Arbeit begann. Warum denn nicht? Ja, wieso eigentlich nicht? Immerhin hatte er ja nicht die Absicht, für den Rest seines Lebens keusch und abstinent zu bleiben. Also sagte er: „Doch, ja. Ich glaube, das wäre mir angenehm.“
„Wie war es mit der da?“ Salaman wies mit der Spitze seines Pantoffels auf ein Mädchen mit kastanienrotem Fell. „Auf, Kindchen! Hopp-hopp! Wach schon auf! Heut nacht gehörst du dem Prinzen Thu-Kimnibol!“
Und damit verzog sich der König. Er schlich langsam und kaum merklich gebückt.
Wortlos winkte das Mädchen Thu-Kimnibol zu dem für ihn bereiteten, mit Wandteppichen und Kissen wohlausgestatteten Bettgemach im rückwärtigen Teil des Palastes. In dem schwachen honiggoldenen Licht an dem Bettlager betrachtete er sich das Mädchen nicht ohne Interesse. Sie war klein und wirkte kräftig und für ein Mädchen ziemlich breit in den Schultern. Auch das Kinn war recht ausgeprägt. Die grauen Augen standen weit auseinander. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Plötzlich stieg ein wilder Verdacht in ihm empor.