„Willst du das wirklich, Kundalimon?“ Sie hielt den Atem an und wartete.
„Aber du willst doch das Nest sehen.“
„Ja. Ja, das will ich. will ich sehr.“
„Dann vielleicht mit dem Tvinnern.“
„Aber es hat dich so erschreckt. Neulich.“
„Das war damals.“ Er lachte weich in sich hinein. „Und wenn ich mich noch recht erinnere, hat es da mal eine Zeit gegeben, in der du Angst vor der Kopulation gehabt hast.“
Sie lächelte. „Die Dinge ändern sich.“
„Ja. Sie ändern sich. Also komm! Zeig mir, wie man tvinnert, und ich zeig dir das Nest. Aber vorher mußt du dich erst mal zu mir umdrehen.“
Nialli nickte und wandte sich ihm zu. Er lächelte sie an, mit diesem wunderbaren rückhaltlosen sonnenwarmen Lächeln, das er hatte, das Lächeln eines Kindes in einem Männergesicht. Strahlend senkten sich seine Augen in ihre, hell, voller Erwartung, erregt. Es lag eine Aufforderung in dem Blick wie nie zuvor.
„Ich hab bisher nur ein einzigesmal getvinnert“, sagte sie, „das war vor fast vier Jahren. Mit Boldirinthe. Wahrscheinlich kann ich es auch nicht viel besser als du.“
„Wir werden es gut machen“, sagte er. „Also, jetzt zeig mir, was das ist, dieses Tvinnern.“
„Zuerst die Sensoren, der Kontakt. Du konzentrierst alles, dein ganzes Sein.“ Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Hauch von Beunruhigung. „Nein“, sagte sie. „Versuch nicht, dich zu konzentrieren, versuch nicht einmal zu denken. Tu einfach nur das, was ich mache, und laß zu, was dir dann geschehen wird.“ Sie zog ihren Sensor dcht an seinen. Er entspannte sich. Er schien ihr inzwischen restlos zu vertrauen.
Sie stellten den Kontakt her — und konnten ihn halten.
Nialli hatte ihre Intimitätsstunde mit Boldirinthe nie vergessen können. Der Phasenverlauf war ihr deutlich im Gedächtnis. Der Abstieg über die Leitersprossen der Wahrnehmung in die tiefen Seelenbereiche, wo dann die Kommunion stattfand. Und Kundalimon folgte ihr nun bereitwillig. Er schien intuitiv zu wissen, was er tun müsse, oder er lernte und entdeckte im Verlauf des Prozesses. Augenblicke danach folgte er ihr nicht mehr, sondern tauchte Seite an Seite mit ihr hinab, ja war ihr zuweilen sogar voraus und führte in die dunklen geheimnisumwitterten Tiefen hinab, in der es kein Individual-Selbst mehr gab und wo nichts existierte als die Einheit aller Seelen.
Dann verbanden sie sich zum vollkommenen Tvinnr.
Seine Seele stürzte in die ihre, und Niallis verschmolz mit seiner Seele, und endlich — endlich — ist sie wieder im NEST.
Und es ist das ‚Nest-der-Nester‘, das Großnest, hoch droben im Norden, nicht das Behelfsnest, in dem Nialli während der wenigen Monate ihrer Gefangenschaft gelebt hatte. Außerdem waren sozusagen alle Nester ein Nest, denn die Präsenz der Königin infundierte sie alle gleichermaßen; doch Nialli hatte sogar damals erkannt, daß ihr Nest nur eines der unbedeutenderen in einem Randdistrikt der Hjjk-Domäne war, mit einer Subsidiar-Königin als Herrscherin. Aber der Ort, an dem sie sich nun befinden, ist der Urquell und der Herzschlag der Hjjk-Nation, ihr innerster Kern, der Nabel und die Nabe, der grandiose Angelpunkt und die Achse, um die sich alles bewegt. Und hier wohnt die Königin der Königinnen.
Nialli Apuilana empfindet nichts hier als fremd. Hier hatte Kundalimon den Großteil seines Lebens zugebracht, ein Fleischlingsjunge unter den Hjjks, ohne Bewegungsbeschränkung in ihrer Welt, sich nährend von ihrer Nahrung, ihre Luft atmend, so denkend wie sie, lebend und lebendig wie sie. Dort war Kundalimons Heimat. Und deshalb war es nun auch die ihrige.
Hand in Hand schweben sie hindurch, wie umherstreifende Geister, ungesehen, ungehindert. Sie ist Kundalimon, er Apuilana. Er ist sie, und sie ist er. Sie können nicht entscheiden, wo der eine aufhört, die andere beginnt.
Das große NEST ist endlos, ein Labyrinth dunkel-warmer Galeriengänge, halb unter dem Erdboden verborgen, das sich meilenweit in alle Richtungen erstreckt. Das Nest-Licht, ein weiches rosiges Glühen, ein Licht wie in Träumen, strömt aus den Wänden. In den leisen Luftzügen schwebt der erregend-süße Duft des Nest-Atems, pelzig-weich und üppig beladen mit den vielschichtigen chemischen Botschaften, die von den Nest-Bewohnern ausgetauscht werden. In diesen verwirrenden verzweigten Labyrinthgängen hausen Millionen Hjjks, und hier auch, im tiefstuntersten Bereich, am stillsten Ort des emsigen Gewimmels, im Mittelpunkt das Ganzen lagert die reglose ungeheure Masse der Superkönigin, der Königin der Königinnen, uralt, zeitlos, nicht-sterbend, maßlos, alles steuernd und alles liebend. Nialli fühlt jetzt, wie gewaltig und überwältigend groß IHRE Präsenz ist: Sie wälzt sich durch alle Hallen und Gänge wie das Dröhnen eines gigantischen Gongs. Es gibt kein Entrinnen. SIE umfängt das ganze Nest und sämtliche Subsidiarnester ebenfalls mit IHRER unendlich fließenden überwältigenden LIEBE. Und über all dies hinaus quillt die noch höhere, noch stärker alles umfassende Kraft, die auch die Königin der Königinnen als höchste anerkennt, die gewaltige, unbestrittene, unausweichliche wilde Energie des Ei-Plans, der fundamentalen Lebenskraft, der universalen unausweichlichen Weiblichkeit, die jegliche Existenz unaufhörlich vorantreibt.
Nialli überantwortet sich mit höchster Freude und Bereitschaft diesem Hohenlied der Vollkommenheit. Deswegen verlangte es sie, hierher zu kommen: um erneut sicher zu fühlen, daß die Welt einen Sinn hat und eine Struktur, um wieder glaubhaft zu wissen, daß eine Gestalt, ein Plan, ein tiefer Zweck der bestürzenden Mechanik des Kosmos zugrundeliegen.
„Hier ist die wahre Nest-Wahrheit“, sagt Kundalimon zu ihr, und sie sagt zu ihm: „Hier herrscht die Königin-Erleuchtung.“
Und sie schweben, treiben ungehindert weiter. hierhin, dorthin, überallhin.
Lautlos gehen die Myriaden Nestbewohner ihren Aufgaben nach. Ein jeglicher kennt seinen Platz und seine Funktion. Das ist die NestBindung: Harmonie, Einheitlichkeit, festgefügtes Muster. Draußen in der chaotischen Welt der Zufälle gibt es nichts dergleichen. Hier ist nichts chaotisch oder zufällig. In diesen Gangsystemen herrscht eine profunde Stille, und doch sind sie überall von zielstrebiger Aktivität erfüllt.
Hier stapfen Manipeln von Soldaten von ihrem neuesten Beutezug zurück, und Arbeiter eilen auf sie zu, sammeln die Waffen ein und reinigen sie und schleppen den Proviant, die heimgebrachte Beute, fort zu den Säuberungs- und Speicheranlagen. Und hier, wo das Licht dunkelpurpurn ist wie rauchig-schwelendes Feuer, lagern die Eierlegerkompanien in ihren Boxen. Unablässig streifen Cordons von Lebenszündern ruhig an ihnen vorbei und verweilen da oder dort, um den Befruchtungsakt zu vollziehen. Und hier kauern nahrungsbereite Ammen über den schlüpfbereiten Eiern und neigen sich, um den Neugeborenen Nahrung zu bieten.
Und hier, in engen düstren Abteilungen, unterrichten die Nest-Denker die Jugend, die in gespannter Aufmerksamkeit reglos vor ihnen steht. Hier sind auch die Leibdiener der Königin in ihrer warmen Katakombe und bereiten Ihr die Frühmahlzeit. Dort stehen in festgeschlossener Formation, Arm in Arm geschlungen, die Königlichen Leibwachen und riegeln den Weg zu den unteren Galerien mit der Kammer der Königin ab. Da warten Prozessionen der Jugend — nach männlich und weiblich getrennt — auf ihren Aufruf zur Audienz in der Kammer, wo sie das Geschenk der Königlichen Berührung erhalten und zur Reife erweckt werden sollen — oder aber um für eine andersartige Bestimmung ausgesondert zu werden, gezeichnet mit dem Mal eines Kriegers oder Arbeiters, oder um vielleicht einer der wenigen Auserwählten zu werden, ein Nest-Denker.
Die Kammer der Königin ist der einzige Nestbereich, den Nialli und Kundalimon in dieser Vision nicht betreten. Es ist ihnen nicht erlaubt — noch nicht —, denn während ihres früheren Aufenthaltes im Nest war Nialli nicht die Gunst der Erst-Audienz zuteil geworden, und Kundalimon kann sie nicht in die Gegenwart der Königin bringen, nicht jetzt und nicht einmal auf diesem Weg einer Vision, eines Traumes. Damit würden sie bis zum angemessenen Zeitpunkt warten müssen. Dann endlich würde sie die Königin in Ihrer gewaltigen und unergründlichen Masse in Ihrer geheimen Kammer im Herzen des Nests ruhen sehen.