Sonst aber liegt ihnen alles vor Augen. Und Nialli wandert staunend und in hingerissener Nest-Liebe darin umher.
Nest-Denker sagt: „Da sind sie, der Fleischling und des Fleischlings Braut. Kommt, setzt euch zu uns und tretet mit uns ein in die NestWahrheit.“
Also sind sie ja gar nicht unsichtbar für die Nestbewohner. Natürlich nicht. Wieso sollten sie?
Sie streckt die Hand aus, und eine harte borstige Kralle ergreift sie und hält sie fest. Dicht vor ihr glühen schimmernde blauschwarze multifacettierte Augen. Wellenförmige Kraftströme pulsen durch ihre Seele: die starke Emanation des Nest-Denkers.
Nest-Denker tritt jetzt in ihren Geist ein und zeigt ihr die hohe NestWahrheit, das eine, höchste, umfassende Konzept des Universums, die Macht, die alle Dinge bindet: der Friede der Königin. Und er weist ihr das Große Muster: die gewaltige Königin-Liebe, die sich im Ei-Plan verkörpert, um Nest-Überfluß in alle Dinge zu bringen. Er füllt Niallis Bewußtsein, genau wie einst vor Jahren ein anderer Nest-Denker in einem anderen Nest es getan hat.
Und wie damals dringt die schlichte Kraft in Niallis Seele ein, ergreift Besitz von ihr, und sie verneigt sich vor dem Wirklichen, gegen das es keine Widerrede gibt. Da kniet sie, schluchzt vor Entzücken, als die gewaltige Musik der Wahrheit durch die Hauptkanäle und Verästelungen in ihrem Geist donnert. Und sie überantwortet sich dem in völliger Hingabe.
Sie befindet sich wieder in ihrer wahren Heimat.
Und von nun an wird sie nie mehr fortgehen.
„Nialli?“ Der Klang einer Stimme, eine unerwartete, eine betäubende Störung. Sie brach über sie herein wie eine einen endlosen Hang herabdonnernde Steinlawine. „Nialli? Bist du in Ordnung?“
„Nein. ja. ja.“
„Ich bin’s, Kundalimon. Mach die Augen auf, Nialli. Mach sie auf!“
„Sie. sind. geöffnet.“
„Bitte! Komm zurück aus dem Nest. Es ist vorbei, Nialli. Schau, so schau doch, da ist mein Fenster, dort die Tür, da drunten liegt der Hof.“
Sie wehrte sich. Warum sollte sie fortgehen von dem Ort, der ihre Heimat war?
„Nest-Denker. Königin-Präsenz.“
„Ja. Ich weiß.“
Er hielt sie, streichelte sie, zog sie eng an sich heran. Seine Wärme gab ihr Sicherheit. Sie blinzelte ein paarmal, ihre Sicht begann sich zu klären. Sie erkannte die Wände des Zimmers, den kleinen Fensterschlitz, das helle flirrende Herbstlicht. Sie hörte den dürren Wind sausen. Widerwillig gab sie der unbestreitbaren Wirklichkeit nach. Das Nest war verschwunden. Hier gab es kein Nest-Licht, keinen Nest-Duft. Und sie fühlte nicht länger die Präsenz der Königin. Und doch — die Worte des Nest-Denkers hallten noch immer in ihrem Geist nach, und die gewaltige Tröstung, die ihr daraus zuteil geworden war, besänftigte noch immer ihre Seele und lullte sie ein.
Plötzlich blickte sie Kundalimon verblüfft an.
Kundalimon, dachte sie. Ich hab mit ihm getvinnert!
„Warst du dort mit mir?“ fragte sie. „Hast du es ebenfalls gefühlt?“
„Ja. Alles.“
„Und wir werden es wieder sehen können, ja? So oft wir wollen.“
„In unseren Visionen, ja. Und eines Tages werden wir es in Wahrheit und Wirklichkeit sehen. Wenn die Zeit da ist, werden wir zusammen zum Nest gehen. Bis dahin müssen wir uns mit den Visionen begnügen.“
„Ja“, sagte Nialli. Sie zitterte ein wenig. „Und ich hab es gewußt, daß wir tvinnern müssen, wenn wir es gemeinsam sehen wollten. Und das haben wir. Und wir haben es recht gut angestellt.“
„Ja, jetzt sind wir Tvinnr-Partner“, sagte er.
„Woher kennst du denn den Ausdruck?“
„Ich hab ihn von dir gelernt. Gerade eben, als wir tvinnerverbunden waren und ich in deiner und du in meiner Seele.“ Er lächelte. „Tvinnerpartner, Tvinnerpartner, du und ich.“
Sie blickte ihn zärtlich an. „Ja. Ja, das sind wir.“
„Es ist wie eine Liebeskopulation, nur viel tiefer, viel näher.“
Nialli nickte. „Kopulieren kann jeder. Aber das echte Tvinnr ist nur mit wenigen möglich. Wir haben sehr großes Glück, wir zwei.“
„Wenn wir wieder zusammen im Nest sind, wird es da viel Tvinnern für uns geben?“
„Ja. Aber gewiß doch!“
„Ich werde sehr bald zur Heimkehr ins Nest bereit sein“, sagte er.
„Ja.“
„Und du wirst mit mir gehen, wenn ich von hier fortziehe? Wir werden zusammen gehen, du und ich?“
Sie nickte begierig. „Ja. Das verspreche ich dir.“
Sie blickte zum Fensterschlitz. Dort draußen ging die ganze große Stadt den verschiedensten Beschäftigungen nach. ihre Mutter, ihr Vater, das feiste Faß Boldirinthe, der hinterhältig-glatte Husathirn Mueri, der Schmuddelschleimer Curabayn Bangkea und sein Schmutzfink von Bruder. Tausende biederer Bürger im hektischen Getriebe ihres kleinen individuellen Lebensablaufs. Und allesamt so blind gegenüber der Wahrheit! Ach, wenn die doch nur wüßten, dachte sie. Alle die da draußen! Aber die hatten keine Ahnung, was sich hier drinnen ereignet hatte. Welche Partnerbeziehung hier an diesem Tag geschmiedet wurde. Was für Gelöbnisse wir einander geleistet haben. Und wir werden sie halten!
Die ersten Tage des Staatsbesuches von Thu-Kimnibol waren dem protokollarischen Festprogramm vorbehalten gewesen, den zehn Festmahlen und Tänzen und dem Liebeslager und den Schaukämpfen der Bein-Ringer und Feuerfänger, und am Ende und Höhepunkt — dem Austausch der Geschenke. Nun aber war die Zeit für die ernsten Geschäfte gekommen. Also, weswegen er überhaupt nach Yissou zurückgekehrt war.
Salaman bezog Platz auf seinem erhabenen Thron in der ‚Halle des Staates‘. Der Sitz war aus einem einzigen tropfenförmigen schimmernden Obsidianblock, mit leuchtenden Flammenwirbeln durchwachsen, geschnitzt, den Salaman vor langer Zeit bei Grabungen im Herzen der Ur-Stadt gefunden hatte. Alle Welt nannte das nun den ‚Thron Harruels‘, und dies war einer der wenigen Tribute, welche die Stadt ihrem ersten König zollte. Salaman hatte nichts dagegen. Ein Häppchen Ehrerbietung gegenüber dem Angedenken an den geliebten Ur-Gründervater, warum denn nicht? Es spielte keine Rolle, daß Harruel seinen angeblichen Thron nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn jemals auf ihm gesessen hatte.
Harruel war für das Volk — wenn es denn überhaupt an ihn dachte — ein gewaltiger Kriegsheld und ein weiser und weitblickender Staatsmann. Nun, ein großer Krieger, das war er gewiß gewesen, aber ein Staatsmann? Eine Führerfigur? Weise? Also da hatte Salaman denn doch seine Zweifel. Allerdings war ja auch kaum noch jemand am Leben, der sich an den wahren Harruel noch erinnern konnten, diesen griesgrämigen Brüter und Trunkenbold, dieser brutale Schläger und Frauenschänder, der sich unablässig auf dem Folterbett seiner selbstproduzierten Seelenängste wohlig quälte.
Und da kam nun jetzt Harruels Sohn in Harruels Stadt und trat vor Harruels Thron als Gesandter der Stadt Dawinno zu Harruels Nachfolger. Das Große Rad rollte, und in seinem Rollen fügte es alles zu allem. Warum war der Mann gekommen? Bisher hatte er sich nicht den kleinsten Hinweis entschlüpfen lassen. Bislang war alles glatt und gut verlaufen, immerhin. Anfangs hatte er, Salaman, ja dieses unangemeldete Eintreffen Thu-Kimnibols als einen Unstern und eine Last empfunden, als rätselhaft, ja gar bedrohlich. Zugleich aber war es eine nicht uninteressante Herausforderung: Kannst du, Salaman, ihn noch immer manipulieren? Ihn auf deinem Brettspiel in Schach halten?
Der König sprach voll Liebenswürdigkeit: „So setz dich doch, Thu-Kimnibol, ja?“
„Wenn es deiner Majestät genehm wäre, ich befinde mich recht wohl, so wie ich jetzt bin.“