„Wie immer es dir beliebt. Etwas Wein?“
„Etwas später vielleicht, nachdem wir geredet haben. Für mich ist es etwas früh am Tag, um schon zu trinken.“
Nicht zum erstenmal überlegte Salaman, ob Thu-Kimnibol besonders raffiniert sei — oder bloß ein schlichter argloser Naivling. Es war unmöglich, diesen Mann zu durchschauen. Indem er es vorgezogen hatte, im Stehen zu sprechen, hatte er sozusagen sich die Option zugeschanzt, allein durch seine Körpergröße und seine Stärke den Raum zu beherrschen. Aber — war dies eine gezielte Planung oder (wie er vorgab) wirklich weiter nichts als eine reine Bequemlichkeitsentscheidung? Und durch die Zurückweisung des Weines hatte er der Begegnung einen steif-formalen Charakter aufgezwungen, der sich bei eventuellen späteren scharfen Verhandlungen zu seinen Gunsten auswirken könnte. Oder war es einfach so, daß er bei der Arbeit nicht gern trank? Die Söhne von Säufern neigen schließlich oft dazu, einen gegenteiligen, trockeneren Pfad zu gehen.
Der König fühlte sich dringlich veranlaßt, den Vorteil, den Thu-Kimnibol (unabsichtlich oder gezielt) über ihn gewonnen hatte (und dermaßen blitzschnell und im Handumdrehen) wieder wettzumachen. Es war ja schon schlimm genug, daß der Kerl dermaßen riesenhaft war! In der Nähe großer Männer fühlte Salaman sich stets ziemlich unwohl; nicht etwa weil er unter einem deutlicheren Minderwertigkeitskomplex gelitten hätte, weil er selbst stummelbeinig war, sondern weil körpermassige träge Mannsbrocken (wie dieser Thu-Kimnibol) ihm das Gefühl gaben, er selbst sei vielleicht in seinen Bewegungen überhastig und fieberisch wie ein kleines wieselndes huschendes Tier. Doch davon ganz abgesehen, er durfte einfach nicht zulassen, daß Thu-Kimnibol bestimmte, in welchem Rahmen das Gespräch stattfand.
„Du kennst meine Söhne?“ fragte Salaman, als die Prinzen in den Saal kamen und ihre Sitze einnahmen.
„Ich kenne Chham und Athimin, gewiß. Und bei meinem Eintreffen begegente ich Ganthiav.“
„Nun, dies ist Poukor. Hier Biterulve. Und diese sind Bruikkos und Char Mateh. Mein Sohn Praheurt ist noch zu jung, an dieser Versammlung teilhaben zu können.“ Der König breitete die Arme weit, als wolle er sie alle an seine Brust ziehen. Ja, und sollten sie doch sich um Thu-Kimnibol scharen. Ihn in ihrer Mitte erdrücken. Groß mag er ja sein, aber gemeinsam sind wir ihm allemal überlegen.
Sie bauten sich im Raum auf, die sieben Prinzen, die sämtlich ein getreuliches Abbild ihres Vaters waren — bis hin zu den kalten grauen Augen, dem vierschrötigen Leib. alle, bis auf den einen, der Biterulve hieß und weit weniger klobig-klein aussah als der Rest, aber eher bläßlich, auch wenn er immerhin wenigstens den Königsblick besaß. Salaman genoß es, als er einen Hauch von Unbehagen über Thu-Kimnibols Gesicht huschen sah, während sich die Salamanischen Doppelgänger einfanden. Eine beachtliche Phalanx, fürwahr. Sie legten Zeugnis ab für die Stärke seiner Lebenslendenkraft.
Wenn er ein Weib bestieg, dann bestimmte sein Samen die Erbmerkmale, seine Gestalt, seine Gesichtszüge waren da wiedergeboren. Ein jeglicher konnte es an seinen, versammelten Söhnen sehen. Er war mächtig stolz darauf.
„Na, da hast du aber eine recht löbliche Kompanie“, sagte Thu-Kimnibol.
„Ja, so ist es. Sie sind mein ganzer Stolz. Besitzt auch du viele Söhne, Thu-Kimnibol?“
„Nein, Mueri hat mich nie damit segnen wollen. Und nun wird es wohl auch kaum noch geschehen. Die edle Dame Naarintha.“ Seine Stimme schwankte und verstummte. Sein Gesicht erstarrte zur Maske.
Salaman verspürte einen scharfen Schock. „Sie ist — tot? Nein, sag mir, Gevatter, daß es nicht wahr ist!“
„Du wußtest, daß sie krank war?“
„Ich vernahm Gerüchte, als die Karawane zuletzt hier war. Aber die Kaufleute sagten da, es bestehe Hoffnung, daß sie genesen werde.“
Thu-Kimnibol schüttelte den Kopf. „Sie siechte den ganzen Winter über dahin, und im Frühjahr wurde sie schwächer. Sie starb — nicht lange, bevor ich mich nach Yissou aufmachte.“
Die Worte fielen düster und dumpf wie Steine in den Saal. Sie trafen Salaman jedenfalls ganz unvorbereitet. Bisher hatten sie es an diesem Abend zuwege gebracht, einander ganz sachlich und formell zu begegnen, sich fest an ihre jeweilige offizielle Rolle zu halten, und eben König und Gesandter zu sein, wie erstarrt auf einem steinernen Fries, um zu verhindern, daß die ärgerliche gemeinsame Vergangenheit, die zwischen ihnen lauerte, hervorbrechen und womöglich den glatten Verlauf der höflichen Diplomatiebestrebungen stören könnte. Jetzt aber hatte sich unerwartet das Moment des ganz realen Sterbens in die Diskussion gemischt. „Ich beklage das“, sagte Salaman nach kurzem Schweigen und seufzte. „Ich beklage das sehr. Weißt du, ich habe für ihre Genesung gebetet, als die Kauffahrer mir berichteten. Und ich traure mit dir und teile deinen Gram, Cousin.“ Und er blickte Thu-Kimnibol mit echtem Mitgefühl an. Auf einmal war der ganze Tenor des Staatsbesuches verändert. Dieser Mann da, dieser turmhohe Gigant und Erzrivale aus der Jugendzeit, dieser gefährliche Sohn des gefährlichen Harrueclass="underline" Das war ein Mann, verletzlich und verletzt, und er hatte gelitten. Auf einmal war es möglich, in ihm etwas anderes zu sehen, als nur einen verwirrenden und ärgerlichen Eindringling. Ganz plötzlich. Salaman stellte sich vor, wie Thu-Kimnibol am Sterbelager seiner Gemahlin stand und die Fäuste ballte und weinte. Er stellte sich vor, daß er in rasender hilfloser Wut heulte und brüllte, so wie er selbst es getan hatte, als seine erste geliebte Gefährtin, Weiawala, starb. Thu-Kimnibol bekam dadurch für Salaman auf einmal eine deutlichere, gesteigerte Wirklichkeit. Und dann erinnerte sich der König, wie Thu-Kimnibol und er Seite an Seite in der Schlacht gegen die Hjjks gekämpft hatten, wie Thu-Kimnibol, damals noch ein Kind — ja, er hatte sogar noch seinen Kindsnamen getragen —, an dem Tag gekämpft hatte wie ein Held. Und in Salamans Herzen breitete sich ein starkes Gefühl der Zuneigung, ja sogar der Liebe zu diesem Mann aus, den er gehaßt hatte, den er aus seinem Königreich vertrieben hatte. Er beugte sich nach vorn und sprach mit leiser rauher Stimme: „Kein Fürst von deiner Bedeutung sollte ohne Söhne sein. Du solltest dir eine neue Gefährtin wählen, Cousin, sobald du deine Trauer überwunden hast.“ Und dann — mit einem komplizenhaften Augenzwinkern: „Oder nimm dir zwei oder drei. So hab jedenfalls ich es hier gemacht.“
„In Dawinno erlauben wir uns noch immer nur jeweils einen festen Gefährten, lieber Vetter“, antwortete Thu-Kimnibol ruhig. „In dieser Hinsicht sind wir unglaublich konservativ.“ Salaman empfand dies irgendwie als einen Verweis, und das frisch erlebte Wohlwollen gegenüber Thu-Kimnibol verflüchtigte sich großenteils und ebenso rasch, wie es in ihm heraufgequollen war. Thu-Kimnibol tat es achselzuckend ab und sagte: „Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint mir die Wahl einer neuen Gefährtin noch als recht befremdlicher Gedanke. Aber die Zeit wird das wohl ändern, vermute ich.“
„Die Zeit verwandelt alles“, sagte Salaman gewichtig, als verkünde er den Weisspruch eines Orakels.
Er merkte, daß Thu-Kimnibol allmählich die Geduld zu verlieren drohte. Womöglich bedrückte ihn ja das Gerede über Söhne und Gemahlinnen. Vielleicht aber war auch diese sichtbare Ungeduld nur ein weiterer Trick. Er hatte in dem weiten Raum umherzustapfen begonnen wie ein gewaltiges Tier, war an einer Prinzenreihe vorbeigestampft, herumgewirbelt und an der anderen wieder nach vorn gekommen. Die prinzlichen Augen folgten jeder seiner Bewegungen.
Dann ließ sich Thu-Kimnibol plötzlich auf einen Diwan in der Nähe des Königs sinken und sprach: „Genug davon, Gevatter. Laß mich nun zu meinen Aufträgen kommen. Vor einigen Monaten tauchte in unsrer Stadt ein seltsamer Fremder auf. Ein junger Mann, fast noch ein Knabe. Er kam auf einem Zinnobären aus dem Norden geritten. War unserer Sprache kaum kundig und brachte nur Hjjk-Laute hervor und vielleicht ein, zwei Brocken aus der Volkssprache. Wir konnten nicht herausbringen, woher er kam, was er wollte oder wer er war, bis Hresh, unter Anwendung von Tricks, wie sie nur Hresh kennt, mit der Hilfe des Wundersteins in sein Bewußtsein eindrang. Dabei entdeckte er, daß der Fremdling ursprünglich aus unserer Stadt stammte und als Kind, vor etwa dreizehn Jahren, gestohlen worden war.“