Nach einer Weile sprach Salaman: „Wie groß sind die Chancen, daß die Kneifärsche siegen und ihr diesen Vertrag unterzeichnen werdet?“
„Das wird nicht geschehen.“
„Nein. Damit rechne ich allerdings auch nicht. Aber ich werde dir sagen, wie meine Position für diesen Fall sein würde. Wenn Dawinno seine fundamentalen Grundrechte an die Hjjks preisgeben will, sage ich, schön, dann tut es. Aber nichts, was Dawinno vertraglich festlegt, wird für uns bindend sein. Diese Stadt hier wird niemals in irgendeinem Punkt eine hjjkische Autorität anerkennen, solang ich lebe. Und dies gilt auch für meine Söhne.“
„Es besteht kein Anlaß zur Sorge“, sagte Thu-Kimnibol. „Der Hjjk-Vertrag ist eine Leiche von gestern. Und es geht auch bei meiner Mission hier gar nicht um ihn.“
„Um was also dann?“
„Ich bin gekommen, um dir ein Bündnis vorzuschlagen, lieber Cousin. Dawinno und Yissou — Seite an Seite vereint, zu einem einzigen Ziel.“
Salaman ruckte vorwärts und umklammerte die Armstützen seines Thrones. „Und worin würde dieses Ziel bestehen, Gevatter?“
In Thu-Kimnibols eisigen dunklen Augen flammte ein fremdartiges, ganz neues Feuer auf. „In der Führung des Krieges gegen die Hjjks“, sagte er, „und der Vernichtung dieses Ungeziefers!“
Der Zoologische Garten, kurz vor Sonnenuntergang. Es ist der Vorabend vor dem Dawinno-Fest, und die ganze Stadt bereitet sich auf die Spiele vor. Alle — außer Hresh natürlich, der immer gegen den Strom schwimmt. Allein wandert er zwischen seinen Tieren umher und denkt, daß jetzt eigentlich der Zeitpunkt gekommen sein müsse, um herauszufinden, wie das Denkvermögen seiner Caviandis nun tatsächlich beschaffen sei.
Als er jünger war, zog er oft durch den Tag und versuchte insgeheim, sich so zu bewegen, wie er sich einen Saphiräugigen vorstellte, in der Hoffnung, dadurch auch so denken zu können wie ein Saphiräugiger. Jetzt, an diesem Nachmittag, erinnert er sich dessen. Nimm die entsprechende Körperhaltung ein, bewege dich entsprechend, vielleicht kannst du dann dein Gehirn dazu bringen, so zu funktionieren wie ihre. Und hin und wieder der Versuch, wie ein Traum-Träumer zu gehen, wie ein Menschlicher, wenn er unbeobachtet war: Dann tat er, als sei er lang und von schmaler Gestalt, mit unbehaarten Beinen, ohne Sensor. Aber je heftiger er sich diesbezüglich bemühte, desto affenhafter kam er sich vor. Ein Prähominide, nein, eigentlich eher ein auffrisiertes Äffchen. Dann sagte er sich immer, er gehe zu hart mit sich selber ins Gericht, und mit dem VOLK. Schließlich sind wir doch viel mehr als bloße Nachäffer und sehr, sehr viel mehr wert, als daß man uns zu Affen macht. Er mußte sich das immer wieder einmal selbst sagen. Nein, eigentlich redet er sich das schon fast sein ganzes Leben lang immer wieder ein. Und glaubt es. Meistens. Da, schau dir doch diese Stadt an, nur als Beispiel. Ist Dawinno wirklich so unoriginell? Was haben wir hier nicht alles zustandegebracht. Das ist doch eine große, eine gigantische Leistung. Aber manchmal im Schlaf träumt Hresh, daß er wieder in den Kokon zurückgekehrt ist, wieder ein spilleriger schmaler Junge ist, der mit den andren Beinringkämpfe auskämpft oder sich in spelunkologische Segelabenteuer versteigt und wider alle Chance hofft, einen hurtigen Blick in die Geheimkiste mit den Chroniken des Alten Thaggoran zu erhaschen. Dieses müßiggängerische, leere, stagnierende Leben. Wir leben wie die Tiere, obwohl wir uns Namen gegeben haben, uns Rituale und Zeremonien erfunden haben, ja sogar unsere Geschichte aufzeichneten. Warum sind wir eigentlich nicht längst an unsrer Langeweile krepiert, fragte Hresh sich oft. Da haben wir siebenhunderttausend Jahre eingepfercht in diesen winzigen Höhlenlöchern zugebracht und eigentlich nichts Nennenswertes getan. Kein Wunder, daß wir da ausbrachen, gewaltige Stadtgebilde aufbauten, die wir mit unseren Nachkömmlingen vollstopften. Ach, all diese dunklen, erstickend engen Jahre, die ganze verlorene Zeit, die es wiedergutzumachen galt. Aufbauen, Wachsen, Entdecken, Kämpfen. O ja. Und da stehen wir jetzt! Wohin haben sie uns gebracht, diese unsere ehrgeizigen Bestrebungen? Was haben sie Gutes bewirkt? Alle unsere schlauen Pläne und grandiosen Projekte?
Wozu? Was nutzt es? fragte uns einst der Wassergänger, als wir den Weg nach Vengiboneeza erfragten. Ja, wahrlich, wozu? Was nutzte es? Was? Ja — was denn? was sind wir denn weiter als fellbekleidete Affen, die sich einbilden, sie könnten Menschen spielen.
Nein! Nein und Nein!
Wir sind das VOLK, dem die Götter die Welt als Erbe und Besitz gegeben haben.
Und jetzt ist der rechte Moment, wie ein Caviandi zu gehen. der rechte Augenblick, um herauszufinden, wie sie wirklich sind.
Sie haben sich dem Leben in Hreshs kleinem Tierpark gut angepaßt. Seine Arbeiter haben einen Teil des Bachs im Park abgezweigt, und der linke Arm fließt jetzt durch das unebene Hanggelände, das man den Caviandis als Habitat eingerichtet hat. Hinter spinnwebdünnem Gitter, das aber fest genug ist, einen Zinnobären zu bremsen, fischen die zwei sanften Geschöpfe, sonnen sich, arbeiten geduldig an einem Netz flacher unterirdischer Gänge an beiden Ufern des Wasserlaufs. Sie scheinen den Schrecken ihrer Gefangennahme überwunden zu haben. Manchmal sieht Hresh sie nebeneinander auf dem großen glatten rosa Felsen über ihrem Nest sitzen; dort starren sie dann hingerissen auf die Dächer und weißen Mauern des Wohnbezirks, der an den Park grenzt, als blickten sie zu den Palästen eines ihnen unerreichbaren Paradieses.
Hresh hegt mittlerweile keine Zweifel mehr an ihrer Intelligenz. Doch er will die Beschaffenheit dieser Intelligenz bestimmen. Zuerst allerdings mußte er ihnen etwas Zeit lassen, sich an ihre Gefangenschaft zu gewöhnen. Sie müssen sich beruhigen, zutraulich und zugänglich werden, ehe er den Versuch irgendeines Tiefenkontakts unternimmt.
Nun beginnt er die Annäherung. Er tritt in das Gehege und setzt sich auf einen Stein am Bach, wo er wartet, daß sie sich ihm nähern. Die beiden glatten geschmeidigen großäugigen purpurfarbenen Tiere sind gegenüber, nahe am Zaun, und stehen aufrecht, wie sie dies oft tun. Seine Anwesenheit scheint ihre Neugier zu erregen. Doch noch zögern sie.
Stufenweise aktiviert er sein Zweitgesicht, auf geringer Energiestufe zunächst, und baut das dabei entstehende Wahrnehmungsfeld sphärisch um sich aus.
Er fühlt die prickelnde Wärme eines Kontakts. Er spürt die Auren ihrer Seelen, vielleicht auch den Mechanismus ihres Bewußtseins. Doch er fängt nur eine dumpfe Tiefenströmung auf, ein unklares, unstetes Pulsen einer entfernten Bewußtheit.
Behutsam stellt er die Sonde schärfer.
Dieses Erkennen fremden Bewußtseins und Denkens ist für ihn nichts Neues. Zahlreiche Arten des Neuen Frühlings sind denkfähig, möglicherweise sogar alle. Und könnten mit ihm in Kontakt treten, vermutet er, wenn er nur lernen könnte, ihre Ausstrahlungen aufzuspüren.
Im Lauf der Jahre hat er gelegentlich gewissermaßen mit Goldzähnen und mit Xlendis, mit Taggaboggas und Zinnobären ‚gesprochen‘. Er erinnert sich an die klirrende Mentalstimme des Wasserschrittlings, wie er sich zu seiner gewaltigen Größe aufrichtete und das Stammesvolk Koshmars verhöhnte, das auf der Suche nach dem verlorenen Vengiboneeza umherirrte. Und wie er als Junge hinter einem Felsen kauerte und mit Zweitgesicht dem blutlüsternen Gesang eines Rudels von Rattenwölfen lauschte, die ein scheußliches Geheul als Sprache hatten, deren Wörter aber für ihn dennoch unmißverständlich waren: Kill — kill — Fleisch — Fleisch!