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Einmal, als der Stamm erst einige Tage aus dem Kokon aufgebrochen war, hatte er sogar mit fröstelnder Fasziniertheit das wortlose trockene Schnurren der Hirnsprache eines Hjjks gehört, der anläßlich einer zufälligen Begegnung auf einem kalten kahlen Feld den Stamm höhnisch begrüßt hatte.

Überall in der Welt spricht Bewußtsein zu anderem Bewußtsein, ruft in der stimmlosen Sprache des Geistes ein Geschöpf dem anderen zu. Es ist nichts Ungewöhnliches. Vor langer Zeit schon hatte die Welt in ihrem Wachstum eine Entfaltungsstufe erreicht, auf der solche Fähigkeiten weitverbreitet waren. Fast alles hat eine Sprache, auch wenn einige Arten nur sehr wenig zu sagen haben, und dieses Wenige ist dann oft einfach und wenig luzide.

Doch diese Caviandis hier — aufrecht auf den Hinterbeinen, die zarten Händchen vorgestreckt, die schnurrhaarigen Schnauzen zucken nachdenklich, die dunklen leuchtenden Augen sind warm und voll Leben. Hresh vermutet, daß sie etwas Außergewöhnliches sind und viel mehr als bloßes Getier des Feldes.

Er hebt seinen Sensor, wodurch die von Hresh ausgehende Strahlung verstärkt wird. Sie harren aus und ziehen sich nicht zurück.

„Ich bin Hresh“, sagt er. „Ihr habt von mir nichts zu befürchten.“

Stille, kein Kontakt vorhanden. Dann taucht in der Stille ein wirbelnder Störungsknoten auf, wie eine winzige rote Sonne bei der Geburt im schwarzen Schild des Himmels, und nach einiger Zeit sagt das Caviandi-Weibchen lautlos mit Gedankenstimme: „Ich bin Sie-Kanzi.“ Und das Männchen sagt: „Ich bin Er-Lokim.“

Namen! Sie geben sich Namen! Sie besitzen ein individuelles Identitätsbewußtsein!

Hresh zittert vor verblüfftem Erstaunen.

Nirgends — außer beim VOLK — ist er bisher auf dieses Konzept der Namensgebung gestoßen. Alle bisher erforschten Tiere schienen namenlos gewesen zu sein, wie Bäume oder Steine. Nicht einmal die Hjjks benutzen Namen, so geht jedenfalls das Gerücht. Sie erkennen sich nicht als Einzelwesen in der Masse des Nests.

Aber da haben wir auf einmal Sie-Kanzi und Er-Lokim, und sie erklären sich als eigenständiges Ich. Und ihre Namen, wird Hresh beinahe sofort klar, sind mehr als bloße Bezeichnungen. Er erkennt, daß die Angaben eine ganze Vielfalt von komplexen Dingen bezeichnen, die er kaum erfassen kann, die aber in einem Zusammenhang stehen müssen zu der Beziehung der beiden Caviandis zueinander, zu den anderen Individuen ihrer Gattung, zur Welt ganz allgemein und sogar vielleicht zu den Caviandi-Gottheiten, wenn er die Emanation richtig gedeutet hat. Er glaubt, das ist der Fall. Er vermutet, daß er bisher nur zu einer groben ersten Näherung gelangt ist. Doch selbst das ist schon erstaunlich.

Die Caviandis stehen nahezu reglos da und beobachten ihn. Sie wirken gespannt. Die eleganten Fingerchen an ihren feingeformten Händen krümmen und strecken sich wieder und wieder. Die schnurrbärtigen Schnauzen zucken. Aber die riesenhaften schimmernden Augen schauen ohne Blinzeln zu Hresh herüber wie tiefe dunkle Wasser, still, gelassen und unergründlich.

Nun umfaßt Hresh sie mit seinem Zweitgesicht, und sie zeigen ihm ihre Innenbereiche umfassender. Vieles ist noch unklar. Doch er empfängt die Vision von einem friedfertigen, anspruchslosen Leben, das eng an die Webstruktur der Natur angepaßt gelebt wird.

Menschlich sind sie nicht, jedenfalls nicht nach Hreshs Definition: Sie haben kein Verlangen nach irgendwie geartetem Zuwachs oder Fortschritt, keine Sehnsüchte, kein Expansionsstreben, keinen Wunsch, irgend etwas zu beherrschen, außer ihrem kleinen Bach da. Aber auf eigene Art haben sie ein starkes Bewußtsein. Allein die Erkenntnis der eigenen Existenz! Das allein hebt sie schon weit über die meisten Tiere der Wildnis hinaus. Sie haben ein Wissen über Vergangenheit und Zukunft. Sie besitzen Traditionen, haben eine Geschichte.

Und das Ausmaß dieses geschichtlichen Bewußtseins ist überraschend. Die Caviandis wissen vom hohen Alter der Welt, kennen den gewaltigen gekrümmten Zeitbogen, der hinter sämtlichen Kreaturen des Neuen Frühlings liegt. Sie fühlen den Druck der verschwundenen Epochen, der verlorenen Abfolge von Zeiträumen. Sie wissen, daß Könige und Kaiser kamen und gingen, daß bedeutende Rassen erwuchsen, aufblühten, wieder verfielen und ohne Hoffnung dem Vergessen anheimfielen. Und sie begreifen, daß dies die Endzeiten einer Welt sind, die gelitten hat, verwandelt wurde und alt, und die nun wieder jung ist.

Besonders scharf ist ihr Bewußtsein des Langen Winters. Die Erinnerung daran ist in ihrem Herzen lebendig. Aus ihrem Gehirn kommen Bilder eines sich verfinsternden Himmels, als die herabstürzenden Todessterne Wolken von Rauch und Staub aufwirbeln. Bilder von Schnee und Hagel, von der wachsenden Eislast, die über das Land kriecht. Sie zeigen Hresh flüchtige Bilder von zerlumpten Überlebenden der frühen Kataklysmen, die über die vereiste Erde irren und nach Orten suchen, an denen sie Schutz finden: Caviandis, Hjjks, sogar Bilder vom VOLK selbst, wie sie in die Kokons flüchten, um dort auf das Ende der langen Kälteperioden zu warten.

Hresh hat sich schon lange gefragt, wie viele der Wildtierarten, die er für seinen Garten gesammelt hat, die Zeit des Langen Winters überdauert hatten. Wie hatten sie das ungeschützt überleben können? Es waren doch sicher die meisten frühen Spezies mit der Großen Welt zugrunde gegangen. Und als die Erde sich langsam wieder erwärmte, mußte es eine erneute Schöpfung gegeben haben. Vielleicht, dachte er da manchmal, zeugten die Strahlen der wiederkehrenden Sonne aus dem tauenden Erdboden neue Geschöpfe — oder, wahrscheinlicher, die Götter verwandelten die älteren kälteresistenten Geschöpfe in die neuen Tiere des Neuen Frühlings. Es war das Werk Dawinnos.

Aber die Caviandis sind uralt, genau wie das VOLK selbst.

Die ganze Geschichte ist da, eingelagert im Bewußtsein seiner zwei Caviandis, als wären die Erinnerungen angeboren, als würden sie mit dem Blut von der Mutter auf das Kind übertragen. Die Eiswinde, die durch die Städte der Großen Welt fegen — das edle Volk der saphiräugigen Reptilien harrt standhaft seinem Untergang entgegen. Die zarten Vegetalischen verdorren schon in den frühen Froststürmen. Die bleichen haarlosen rätselhaften Menschlichen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, bewegen sich gelassen durch das sich verdichtende Chaos.

Und die Caviandis passen sich an, graben sich flache Tunnels, kommen nun wieder hier und dort hervor und brechen durch das Eis, das ihre Fischgründe bedeckte.

Mit Bewunderung begreift Hresh, daß diese Geschöpfe fähig waren, den Langen Winter ungeschützt im Freien zu überdauern. Während wir uns versteckt haben. In Felslöchern dicht zusammenhockten. Und jetzt, nachdem sie bis in den Neuen Frühling herüber überlebt haben, geschieht es ihnen, daß sie gejagt und totgeschlagen werden und wegen ihres Fleisches denen als Braten dienen müssen, die ganz zuletzt aus ihren sicheren Schlupflöchern hervorgekrochen kamen. Oder man fängt sie ein und steckt sie in einen Pferch, um sie zu studieren.

Und dennoch empfinden sie keinen Groll gegen ihn, Hresh, oder gegen seinesgleichen. Und diese Erkenntnis ist womöglich der erstaunlichste Fund.

Er öffnet sich ihnen so völlig, wie er kann. Er will, daß die Caviandis ihm direkt in die Seele schauen und darin lesen — und vielleicht begreifen, daß dort nicht Böses lauert. Er versucht, ihnen bewußt zu machen, daß er sie nicht hierhergebracht hat, um ihnen Schaden zuzufügen, sondern nur weil er danach verlangt, ihren Geist zu erreichen und zu berühren, was in ihrer angestammten Wildnis ihm nicht möglich sein würde. Ihr könnt jederzeit eure Freiheit, wiederhaben, wenn ihr wollt, sagt er zu ihnen — sogar heute noch —, nachdem ich erfahren habe, worauf ich gehofft hatte.

Diesem Anerbieten begegnen sie mit Gleichgültigkeit. Sie haben ihren kühlen rauschenden Bach; ihre gemütlichen bequemen Tunnels und Höhlen; es gibt Fische im Übermaß. Sie sind zufrieden. Wie wenig sie doch vom Leben erwarten. Und doch, sie haben Namen. Sie kennen die Geschichte dieser Welt. Wie seltsam sie sind, wie einfach und doch so komplex.