Jetzt scheint ihr Interesse an Hresh zu schwinden. Oder aber sie sind ermüdet. Er selbst spürt, daß seine Energiereserven zur Neige gehen, und weiß, er kann den Kontakt nicht länger aufrecht erhalten. Sein Bewußtsein durchzieht ein Grauschleier. Dann versinkt er im Nebel.
Es gibt natürlich viel, viel mehr, was er von ihnen erfahren möchte. Aber das wird warten müssen. Dies heute war bloß ein vielversprechender Beginn. Er läßt den Kontakt ausschwingen.
Morgengrauen. Schon. Der Tag der Dawinnischen Spiele, das alljährliche Jubiläum der Stadtgründung und Ehrentag des Schutzgottes und Namensgebers.
Vor dem Häuptling lag ein arbeitsreicher Tag. Aber im Grunde waren alle Tage so, arbeitsreich und voller Geschäfte; nur heute würde es noch schlimmer werden als üblich, denn heute sah sie sich auch noch einem Konflikt zweier Rituale gegenüber. Zufällig fielen die Eröffnung des Festivals und des Ritus der ‚ Stunde Nakhabas‘ auf diesen selben Tag, und Tanianes Anwesenheit war bei beiden Anlässen unumgänglich; leider mehr oder weniger zur gleichen Zeit.
Bei Sonnenaufgang mußte sie im Beng-Tempel die Kerze entzünden, um den Beginn der Nakhaba-Stunde zu zelebrieren. Dann mußte sie — auf ihren eigenen Füßen, nicht einmal eine Sänfte war erlaubt, um Demut vor den Gottheiten zu demonstrieren! — die ganze weite Strecke bis zum Koshmar-Park zurücklegen und die Spiele offiziell für eröffnet erklären. Und dann wieder zu den Bengs zurück, um sicherzustellen, daß Nakhaba der Wiedereintritt in die Welt nach seiner Höhenfahrt in Höchste Regionen, um den Erschaffer zu besuchen und mit IHM die Weltprobleme zu besprechen, auch gut gelungen sei. Und dann wieder rüber zu den Dawinno-Spielen, um das Präsidium bei den Athletikwettkämpfen des Nachmittags zu übernehmen.
All diese Götter! Und diese ganzen Zeremonien!
In früheren, schlichteren Zeiten wäre ein Teil der Pflichten Boldirinthe zugefallen. Aber Boldirinthe war nun alt und sehr fett, überdies wurde sie mit der Zeit ein wenig töricht, und außerdem, wie hätte Boldirinthe ein Beng-Ritual zelebrieren können? Den Beng bedeutete sie nichts. Die Opferfrau hatte eigentlich nur noch eine gewisse, allerdings schwache Autorität bei den Leuten, die sich für unverfälschte, reinrassige Abkömmlinge des Koshmari-Stammes hielten und hartnäckig am alten Glauben an die Himmlische Fünffaltigkeit festhielten.
Nein. Taniane würde die Nakhaba-Stunde selbst zelebrieren müssen. Nicht etwa, daß sie auch nur einen Tropfen Beng-Blutes in sich gehabt hätte, oder auch nur einen Augenblick lang an die Existenz Nakhabas geglaubt hätte (und schon gar nicht daran, daß er einem noch erhabeneren, noch ferneren Gott periodische Konsultationsbesuche abstattete), sondern ausschließlich deshalb, weil sie Chef der Regierung war und diese war nun einmal die gemeinsame Vertretung der Koshmaris und Beng gleichermaßen. Gemäß dem Vereinigungsvertrag war sie sogar nominelle Nachfolgerin der ganzen langen Sequenz von Beng-Häuptlingen. Also würde Taniane eben bei Sonnenaufgang zur Stelle sein und die Kerze entzünden, die dem Gott der Bengs auf dem Weg in die Wohnstatt des Schöpfergottes heimleuchtete.
Vorher aber blieb leider noch die ärgerliche Sache mit diesem Husathirn Mueri zu erledigen. Der hatte ihr, spätnachts, per Boten das Ersuchen um eine Privataudienz überbringen lassen und das dermaßen dringlich gemacht, daß ‚die Angelegenheit auch nicht einen Tag Aufschub‘ erlaubte. „Eine höchsternste Angelegenheit“, hatte er gesagt. „Betreffs einer Gefährdung des Stadtstaates“, ja auch ihrer eignen Person, „die sich durch gewisse Aktivitäten deiner Tochter ergeben. In meiner Position kann ich nur nachdrücklich darauf verweisen, daß derlei Affären nicht zu unterschätzen sind.“
Zweifellos, das konnte der Mann nicht. Für Husathirn Mueri war alles eine ‚höchsternste Angelegenheit‘, besonders dann, wenn sich dabei für ihn selbst ein Vorteil absehen ließ. So war der Mann nun einmal. Dennoch legte Taniane keinen Wert darauf, ihn zu vergrätzen. Er war zu nützlich — und außerdem verfügte er von der Vaterseite her über einflußreiche Verbindungen in der Beng-Bevölkerung. Und wenn Nialli in eine Geschichte verwickelt war, und wenn es wirklich ernst war, nicht bloß der Versuch, das Staatsoberhaupt auf sich aufmerksam zu machen.
Also ließ Taniane ihm mitteilen, sie werde ihn in ihrem Amtssitz empfangen, eine Stunde vor Tagesanbruch.
Als sie hinunterkam, stapfte Husathirn Mueri bereits ruhelos in dem weiten Empfangsraum umher. Es war kühl, der Himmel bedeckt, es fiel ein leichter Regen. Der Mann sah dennoch glatt und geschniegelt aus und völlig unverregnet. Sein dichtes schwarzes Fell war makellos gestriegelt, und die weißen Streifen darin, die so deutlich an seine Mutter, Torlyri, erinnerten, hoben sich besonders deutlich ab.
Als sie eintrat, verneigte er sich höchst zeremoniell und schlug das Dawinno-Zeichen gegen sie, und der götterparteilichen Ausgewogenheit zuliebe wünschte er ihr auch noch, daß Nakhabas Freude mit ihr sein möge. Dieser ganze frömmlerische Seich war ihr zuwider, besonders von ihm. Schließlich war es ja für sie kein Geheimnis, wie wenig er von den Göttern überhaupt hielt, egal ob bengischen oder koshmarischen.
Sie verzichtete also auf die Erwiderung der heiligen Zeichen und fragte ungeduldig: „Also, was ist los, Husathirn Mueri?“
„Wollen wir etwa hier darüber sprechen? Im Vorzimmer?“
„Wieso nicht? Der Ort ist so gut wie jeder andere.“
„Ich — hatte erwartet — vielleicht unter etwas weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregenden Umständen.“
Taniane stieß einen lautlosen Fluch aus. „Also, dann komm schon! Hresh hat da unten am Ende des Gangs ein kleines Privatbüro.“
Ein nervöser zuckender Blick. „Und Hresh wird auch dabei sein?“
„Er steht mitten in der Nacht auf und geht ins Haus des Wissens und spielt dort mit seinen Sachen herum. Aber wieso? Handelt es sich um etwas, das er nicht wissen soll?“
„Das zu entscheiden möchte ich dir überlassen, Hohe Frau“, sagte Husathirn Mueri. „Mir liegt nichts andres am Herzen, als dir diese Dinge mitzuteilen, doch wenn du meinst, der Chronist sollte ebenfalls informiert.“
„Also schön. Komm!“ sagte Taniane. Sie wurde zunehmend ärgerlicher. Dieser ganze Quark von Verbeugungen und Kratzfüßen und Ehrenbezeugungen vor Göttern, an die er nicht glaubte, und diese ölglatten Umschweifigkeiten.
Sie ging ihm zu dem kleinen Privatstudio voraus, und dann machte sie fest die Tür hinter ihnen zu. Der Raum war vollgestopft mit Stapeln von Hreshs Schriften, Pamphlete und handschriftliche Aufzeichnungen in Bergen. Durch das schmale Fenster sah Taniane, daß das Nieseln sich inzwischen zu einem heftigen Regen verwandelt hatte. Damit war das Festival schon mal eine Pleite. Sie sah sich schon triefendnaß im Stadion auf der Häuptlingstribüne stehen und die qualmende, spuckende Fackel schleudern, durch die der Wettkampf offiziell eröffnet wurde.
„Schön, also da sind wir“, sagte sie. „Unter vier Ohren.“
„Ich muß dir zweierlei berichten“, sagte Husathirn Mueri. „Das eine sind Informationen, die mir von den Justiz-Wachbeamten vorgelegt wurden, die auf meine Anordnung hin den Hjjk-Botschafter ständig überwachten.“
„Du sagtest aber, es handle sich um Nialli Apuilana.“
„Das ist auch der Fall. Aber ich sagte ebenfalls, daß es sich um eine Gefahr für die Stadt handelt. Ich würde das gern vorab vortragen, wenn du erlaubst.“
„Gut, dann los!“
„Dieser Gesandte, mußt du wissen, streift Tag um Tag ungehindert durch die Stadt. Vorher hatten wir ihn ja unter Hausarrest gestellt, doch der wurde auf Verlangen von Nialli Apuilana aufgehoben. Und geht der Mann herum und verdirbt unsere Jugend, Hohe Frau.“