Sie blickte ihn kalt an. „Verdirbt?“
„Er verbreitet hjjkisches Gedankengut unter den Kindern. Er predigt ihnen eine fremde Ideologie, so Begriffe wie Nest-Wahrheit, KöniginLiebe, Nest-Bindung und Ei-Planung. Du bist mit diesen Begriffen vertraut?“
„Ich habe sie gehört, ja. Jeder hat davon gehört. Aber ich weiß wirklich nicht so recht, was sie bedeuten.“
„Wenn du das wirklich wissen möchtest, brauchst du nur irgendein Kind auf den Straßen der Stadt zu fragen, besonders die ganz jungen Dieser Kundalimon predigt täglich vor ihnen, und täglich stopft er ihnen das Hirn voll mit diesem sündhaften Unsinn.“
Taniane mußte tief Luft holen. „Du bist dir da ganz sicher?“
„Er steht unter strenger ständiger Überwachung, Edle.“
„Und die Kinder — hören sie auf ihn?“
„Edle, die hören ihm zu, und sie glauben, was er sagt. Ihre ganze Einstellung gegenüber den Hjjks hat sich verändert. Sie denken über sie nicht mehr so wie wir, und sie finden sie auch nicht abscheulich und widerwärtig. Sie sehen in ihnen nicht mehr Das Böse. Sprich mit einem der Kinder, Edle, fast jedem beliebigen Kind, und du wirst herausfinden, daß dieser Kundalimon sie dazu verführt hat zu glauben, daß die Hjjks tiefgründig und voller Weisheit sind. Fast göttergleich. Oder immerhin Geschöpfe von einer erhabeneren, besonderen Art. Der Mann predigt ihnen, wie altehrwürdig die Rasse der Hjjks ist, wie groß ihre Bedeutung in den Tagen der Großen Welt war. Du weißt doch, wie fasziniert alle Kinder auf Märchen und Geschichten aus der Großen Welt reagieren. Und da stellt sich der Kerl hin und gibt unseren Kindern zu verstehen, daß es in diesen unseren Tagen noch immer Abkömmlinge einer der sechs großen Rassen der Großen Welt gibt, die weit weg in einem phantastischen unterirdischen Schloß wohnen und keinen sehnlicheren Wunsch hegen, als uns mit ihrer Liebesbotschaft zu überschwemmen und zu beglücken.“
„Doch, ja“, sagte Taniane scharf. „Ich erkenne die Gefahren. Aber was hat er vor? Will er uns alle unsre Kleinen aus der Stadt fortstehlen — ein flötender Rattenfänger, der sie mit seiner Melodei und seinem Getanze verführt und fortlockt. durch die Täler, über die Hügel weit — bis ins NEST?“
„Soweit ich weiß, könnte genau das seine Absicht sein.“
„Und du behauptest, Nialli Apuilana ist in diese Sache verwickelt? Wie?“
Husathirn Mueri beugte sich nach vorn, bis seine Nase fast an die Tantianes stieß. „Herrin, sie ist die Geliebte dieses Kundalimon.“
„Die Geliebte?“
„Aber du weißt doch, sie geht jeden Tag zu ihm in seine Kammer, Edle. Um ihm. ah, sein Essen zu bringen und ihn in unsrer Sprache zu unterrichten.“
„Ja. Natürlich weiß ich das.“
„Herrin, manchmal bleibt sie die ganze Nacht hindurch bei ihm. Meine Wachen haben Geräusche aus diesem Zimmer kommen hören, die — vergib mir, Edle, vergib mir! — unzweifelhaft und eindeutig Kopulationsgeräusche sind.“
„Na, und wenn schon?“ Taniane fuchtelte irritiert mit der Hand. „Kopulieren ist eine sehr gesunde Sache. Sie hat sich bisher nie besonders dafür interessiert. Höchste Zeit, daß sie endlich auf den Geschmack kommt und so.“
Husathirn Mueris Gesichtsausdruck versteinerte, als hätte Taniane damit begonnen, ihm einen Finger nach dem anderen abzuhacken.
„Edle.“, begann er.
„Nialli ist eine erwachsene Frau. Sie kann kopulieren, mit wem sie will. Auch mit einem Gesandten der Hjjks!“
„Herrin, aber die tvinnern ja auch.“
„Was?“ Taniane war so überrascht, daß sie laut wurde. Tvinnern, das war ja nun wirklich etwas ganz anderes! Die Vorstellung, daß sich die beiden Seelen verschmolzen, daß Kundalimon giftfiebriges Gedankengut der Hjjks in das Hirn ihrer Tochter ergoß, die sowieso bereits durch die Erlebnisse in der Gefangenschaft destabilisiert war, das war wie ein betäubender Schlag für sie. Momentan hatte sie das Gefühl, als trügen sie die Beine nicht mehr und als müsse sie auf den rosafarbenen Marmorboden sinken. Sie zwang sich und gewann die Beherrschung wieder. „Wie kannst du sowas behaupten?“
„Ich habe dafür keinen Beweis, Edle“, sagte Husathirn Mueri mit heiserem Kehlton. „Du weißt ja, daß man mir Beschränkungen auferlegt hat, was ihre Überwachung angeht. Aber die viele Zeit, die sie mitsammen verbringen — das Ausmaß ihrer Intimität — und natürlich die Tatsache, daß beide die Efahrung der Gefangenschaft bei den Hjjks gemacht haben. sowie daß sie bereits jetzt unbestreitbar ein Liebespaar sind, und außerdem beide bereits im Tvinnr-Alter.“
„Es sind also bei dir bisher bloße Vermutungen.“
„Ja. Aber ich vermute, korrekte.“
„Ja. Gut. Ich verstehe, was du meinst.“
Taniane warf einen Blick zum Fenster. Nach dem plötzlichen heftigen Guß ließ der Regen nun ein wenig nach, und der Himmel hellte sich auf.
„Hast du irgendwelche Anweisungen für mich, Herrin?“
„Ja. Ja, sicher.“ Ihre Kehle war strohtrocken, und in ihrem Kopf pochte es. Sie mußte endlich aufbrechen, im Tempel der Beng erscheinen und das Ritual ableiern, durch das Nakhaba in die privaten himmlischen Gefilde des Erschaffers katapultiert wurde. Aber die bildliche Vorstellung, daß ihre Nialli und dieser Kundalimon tvinnerten, brannte ätzend in ihren Gedanken. Sie versuchte das Bild zu verdrängen, aber es wich nicht. Also sagte sie steif und von oben herab: „Behalte sie weiterhin im Auge wie bisher. Wenn du wirklich etwas Genaues darüber herausfindest, was zwischen ihr und Kundalimon vorgeht, wünsche ich davon in Kenntnis gesetzt zu werden. Doch sorge dafür, daß sie nicht merkt, daß sie überwacht wird.“
„Selbstverständlich. Und wie verfahren wir im anderen Punkt, der hjjkischen Indoktrination unserer Kinder?“
Der Häuptling wandte ihm das volle Gesicht zu. „Dem muß sofort ein Ende gesetzt werden. Wir können nicht zulassen, daß er die Jugend verdirbt. Du verstehst, was ich sage? Ein Ende!“
„Jawohl, Edle. Ich habe verstanden. Vollkommen.“
Im nieselnden Morgen des Dawinno-Festivals hockte Hresh im Haus des Wissens und machte sich Notizen über seinen Besuch bei den Caviandis. Im späteren Tagesverlauf würde er sich auf der Tribüne des Festivals zeigen und seinen Ehrenplatz an der Seite Tanianes einnehmen und den jungen Athleten der Stadt bei ihren Hampeleien zuschauen müssen. Er konnte sich leider da nicht drücken, es hätte einen Skandal gegeben und wäre überdies auch als gottesfrevlerisch angesehen worden. Immerhin hatte er ja höchstselbst vor Jahren dieses Fest sich ausgedacht, um den klugen, erfinderischen und unberechenbaren Gott zu ehren, der sein persönlicher Schutzgott war — und der der Stadt. Aber es blieben ihm ja immerhin noch einige Stunden, um ein bißchen vernünftige Arbeit zu leisten.
Er hörte Geräusche vor der halboffenen Tür. Dann ein sachtes Klopfen und ein verstohlenes Räuspern.
„Vater?“
„Nialli? Es ist doch nicht etwa schon Zeit für die Spiele?“
„Nein. Es ist noch ganz früh. Ich wollte nur mit dir reden, ehe das Ganze losgeht.“ Eine Pause. „Ich habe jemanden mit mir.“
Hresh kniff die Augen gegen die Dunkelheit zusammen. „Wer ist es denn?“
„Kundalimon. Wir wollten zusammen mit dir etwas besprechen.“
„Ah.“ Er preßte die Handflächen zusammen. „Also, schön. Dann kommt eben rein. Beide.“
Sie kamen aus dem Regen, aber die Tropfen schienen, anstatt in ihr Fell einzudringen, wie schimmernde Perltröpfchen an den Haarspitzen zu hängen. Und von den beiden selbst ging gleichfalls ein strahlender Schimmer aus. Es umgab sie eine Aura von einzigartiger Freude. Sie traten vor Hresh und hielten sich an den Händen, unschuldsvoll wie Kinder, aber bis zum Rand voll von Glückseligkeit, ja überfließend.
Bei ihrem Anblick empfand Hresh beunruhigt so etwas wie Freude, aber auch eine beklemmende Vorahnung. Er begriff nur zu gut, von welchem inneren Feuer dieses Glühen stammte, das von den beiden ausstrahlte.