„Ich begreife“, flüstert sie. „Die Königin — der Erschaffer — Nakhaba — die Fünffaltigkeit — alles ist ein und dasselbe, nur verschiedene Aspekte ein und derselben Wesenheit.“
„Ja. Ja.“
Die Nacht kommt nun rasch. Der schwerhängende Himmel hinter Nialli streift sich mit Blau, mit Scharlachrot, Purpur, mit Grün. Vor ihr das Dunkel. Laternenbäume entzünden sich. Überall tauchen Dschungelbewohner auf. Rings um Nialli flirren schimmernd Flügel und Hälse und Krallen und Schuppen und Gebisse.
Sie sinkt auf die Knie. Sie kann nicht mehr weiter. Als ihr Denkvermögen sich wieder herstellte, kehrte auch die reale Erkenntnis ihrer völligen Erschöpfung zurück. Sie gräbt die Hände in den warmen feuchten Erdboden und krallt sich dort fest.
Aber dann hat es den Anschein, nur kurz, während sie dort so zitternd und keuchend und furchtbar erschöpft kauert, daß sie wieder ganz allein sei — bis auf all diese Kreaturen, die in der schwärzer werdenden Nacht um sie herum kreischen und keckern und brüllen und zischen. Sie verspürt ein kleines furchtsames Frösteln. Wohin sind die Götter verschwunden? Ist sie vielleicht so schnell gelaufen, daß sie hinter ihr zurückgeblieben sind?
Nein. Sie kann sie ja immer noch nahe fühlen. Sie braucht sich ihnen nur zu öffnen, und sie sind da.
Ja, Kind, hier bin ich. Ich bin Mueri. Ich bring dir Trost.“
„Hier. Yissou. Ich beschütze dich.“
„Emakkis. Ich werde dich nähren.“
„Ich bin Friit. Ich heile dich.“
„Ich bin Dawinno. Ich werde dich — verwandeln — verwandeln — verwandeln — Kind.“
Es war die fünfte Woche von Thu-Kimnibols Aufenthalt in der Stadt Yissou. Mit den sachlichen Verhandlungen über ein Militärbündnis zwischen Salaman und dem Stadtstaat Dawinno hatte man noch nicht begonnen; man steckte noch in den Vorgesprächen, die zudem noch recht wenig handfest waren. Salaman schien es überhaupt nicht eilig zu haben. Er wich Thu-Kimnibols Versuchen, endlich zum Kern der Sache zu kommen, beständig aus. Statt dessen erfreute der König ihn mit immer neuen, nie endendwollenden Festen und Feiern, als betrachte er ihn als ein Mitglied der königlichen Familie, und das Mädchen Weiawala teilte Nacht um Nacht sein Lager mit ihm, als wären sie einander bereits anverlobt. Und er hatte sich ja nun wirklich sehr rasch daran gewöhnt, sich ihre eifervoll bereitwillige Leidenschaft gefallen zu lassen. Irgendwie war ihm dadurch wieder der Geschmack am Lebendigsein zurückgekehrt.
Also beunruhigte ihn der schleppende Fortschritt der Verhandlungen nicht. Es bot ihm die Möglichkeit, die schmerzliche Wunde nach Naarintas Tod ausheilen zu lassen, daß er hier so weit fort war von den alten vertrauten Umständen und Verbindungen. Hier hatte er ja im Grunde noch weitaus ältere Verbindungen. Auf eine geradezu merkwürdige Weise genoß Thu-Kimnibol es geradezu, daß er nun nach so langer Zeit wieder in der Stadt zurück war, in der er die entscheidenden, prägenden Jahre seines Lebens verbracht hatte, von seinem dritten bis zum neunzehnten Jahr. Seine Geburtsstadt, Vengiboneeza, kam ihm wie ein Ort aus einem Traum vor, undeutlich, verschwommen, nichts weiter. Und Dawinno, so grandios es sein mochte, war ihm nun auf einmal fern und wesenlos. Sein ganzes dortiges Leben, das Prinzenpalais und seine Gefährtin und die Freunde und die Lustbarkeiten waren immer blasser geworden, bis sie ihm kaum jemals wieder in den Kopf kamen. Hier dagegen, im dunklen Schatten der Titanenmauer Salamans, dieses grotesken Gebildes, und in dem dumpfen, engen und Klaustrophobie ausbrütenden Verhau von Stadt begann er sich allmählich irgendwie heimisch zu fühlen. Das kam für ihn ganz überraschend, und er verstand es auch nicht. Er bemühte sich nicht einmal darum, es zu verstehen. Und was seine Mission betraf, den Zweck seiner Entsendung, je weniger man sich dabei übereilte, desto besser. Ein Bündnis, wie es ihm vorschwebte, das schmiedete man besser nicht überstürzt.
Oft ritt er aus, ins Umland jenseits der Mauer. Gewöhnlich mit Esperasagiot und Dumanka und Simthala Honginda, gelegentlich aber auch mit dem einen und anderen älteren Sohn des Königs. Diese Ausflüge waren auf einen Vorschlag Salamans hin erfolgt. „Deine Xlendis brauchen Auslauft“, sagte er. „Die Straßen in der Stadt sind zu eng und zu kurvenreich. Da können die Tiere doch gar nicht richtig mit ihren Beinen ausgreifen.“
„Besteht die Gefahr, daß wir da draußen auf Hjjks stoßen?“ fragte Thu-Kimnibol. „Ich hab irgendwie so den Eindruck gewonnen, daß die dort überall herumkreuchen.“
„Solltest du sehr weit nach Nordosten vorstoßen, dann ja. Sonst besteht keine Gefahr von Belästigungen.“
„Richtung Vengiboneeza, willst du sagen?“
„Genau. Da hocken diese dreckigen Wanzlinge. Eine ganze Million Ungeziefer vielleicht. Zehn Millionen, was weiß ich schon. Aber es brodelt in Vengiboneeza nur so von denen“, sagte Salaman. „Sie wimmeln dort herum wie Flöhe.“ Er warf Thu-Kimnibol einen schlauen Blick zu. „Aber selbst wenn du bei deinen Ausritten mal ab und zu auf ein, zwei Hjjks stoßen solltest, was macht das schon? Du hast doch mal, wenn ich mich recht erinnere, ganz gut gewußt, wie man sie umbringt.“
„Höchstwahrscheinlich weiß ich das auch heute noch“, sagte Thu-Kimnibol ruhig.
Dennoch, vor der Mauer der Stadt bewahrte er Vorsicht. Gewöhnlich ritt er durch das befriedete Ackerland südlich der Stadt, aber ein paarmal stieß er mit Esperasagiot ein Stück weit in den wenig bedrohlich wirkenden Waldbezirk östlich vor, wagte sich jedoch niemals gen Norden. Nicht, daß es ihn besonders beunruhigt hätte, dort vielleicht auf Hjjks zu stoßen (er verwünschte Salaman für seine hinterhältige Unterstellung von Feigheit); es wäre ein feiner Sport gewesen, mal ein paar Hjjks zu tranchieren. Doch er war mit einem Auftrag hergekommen, und sich in einer Schlägerei mit den Wanzen umbringen zu lassen, das wäre mehr als bloße Dummheit gewesen, es wäre verantwortungslos gehandelt.
Dann schlug Salaman einen gemeinsamen Ausritt vor. Und mit Erstaunen bemerkte Thu-Kimnibol, daß der König sich westwärts wandte, über eine Hochebene, die in rauhes, von schmalen Schluchten durchzogenes Gelände überging, wo ihre Xlendis Mühe hatten, sicheren Tritt zu fassen. Ein schwieriges Gelände voller Brüche. Überall konnten Gefahren lauern. Verspürte Salaman vielleicht das Bedürfnis, den Mut seines Gastes auf die Probe zu stellen? Oder seinen eigenen zu beweisen? Thu-Kimnibol ließ sich seine Gereiztheit nicht anmerken. „Hier ist der Ort“, sagte der König schließlich, „an dem wir die Hjjks vernichtend geschlagen haben, an jenem Tag der Großen Schlacht. Erinnerst du dich? Du warst noch so jung damals.“
„Alt genug, mein Cousin.“
Sie hielten und starrten ins Land. Thu-Kimnibol fühlte, wie alte Erinnerungen, so verdeckt sie sein mochten durch die Schleier der Zeit, in ihm heraufstiegen. Zuerst waren die Hjjk-Formationen durch jene Erfindung Hreshs in Verwirrung geraten, die ihre Zinnobären in einer wilden Stampede in diese von Gesteinsbrocken übersäten Rinnen trieb. Und dann die Schlacht selbst. Wie hatte er an jenem Tag gekämpft! Hatte sie zu Stücken zerhauen, während sie benommen herumtaumelten! Ganze sechs Jahre war er damals alt, oder? Ja, so ungefähr. Aber schon doppelt so groß wie irgendein Gleichaltriger. Und er führte sein eigenes Schwert — und nicht etwa einen Spielzeugsäbel! Die prachtvollste Stunde seines Lebens: er — der kindliche Held, der Schwertknabe, voll Wut und Zorneseifer hackend und alles niedermähend. Es war das eine, das einzige Mal in seinem Leben, daß er die wahre Lust des Schlachtens gekostet hatte. Er sehnte sich danach, diesen berauschenden Wein erneut auf seinen Lippen zu schmecken.
Bei ihrem zweiten gemeinsamen Ausritt wurde der König sogar noch kühner, denn diesmal strebte er dem bewaldeten Hochland im Nordosten der Stadt zu. Also genau jener Region, vor der er Thu-Kimnibol gewarnt hatte. Und er ritt unbeirrt stundenlang weiter, ohne umzukehren. Und während der Tag verstrich und sie immer weiter und weiter ritten, schien es Thu-Kimnibol allmählich denkbar, daß Salaman vorhaben könnte, die ganze Strecke bis nach Vengiboneeza zu reiten. Oder eine ähnliche Wahnsinnsaktion. Das war natürlich unmöglich, eine solche Fahrt würde Wochen dauern, und an ihrem Ende lauerte der sichere Tod. Aber angeblich wimmelte es selbst so nahe der Stadt im Nordosten nur so von Hjjks. Wenn es also auf dieser Strecke so gefährlich war, wieso hatte der König sie diesmal gewählt?