„Bei euch hier mag es ja fünf Morde jeden Tag geben, mein Cousin. Aber wir sind an sowas nicht gewöhnt.“
„Wir auch nicht. Aber zwei Fälle scheinen doch wohl kaum.“
„Der Chef der Garde. Der Gesandte. Und ein Eilbote kommt die ganze weite Strecke hierher, um mich zu informieren. Warum? Nimmt Taniana an, die Hjjks werden Vergeltung üben? Vielleicht — vielleicht rechnen sie daheim mit Ärger, etwa gar mit einem Überfall der Hjjks auf Dawinno.“
„Wir hier haben ihren Gesandten getötet, Gevatter, aber wir haben nie was darüber gehört. Ihr Südländer seid eben zu leicht erregbar, da liegt das Problem.“ Salaman streckte Thu-Kimnibol die Hand entgegen. „Wenn du nicht offiziell abberufen bist, dann bleib genau hier, wo du jetzt bist, das wäre mein Rat. Taniane und ihr Präsidium können ohne dich mit dieser Mordsache fertigwerden. Und wir haben hier Arbeit genug, und wir haben kaum damit begonnen. Bleib in Yissou, mein Cousin. Das ist meine Überzeugung.“
Thu-Kimnibol nickte. „Du hast recht. Was in Dawinno passierte, betrifft meine Aufgabe nicht. Ja, wir haben viel zu tun.“
Hresh ist allein in seinen Privaträumen oben im Haus des Wissens; es ist noch früh am Abend, und er versucht, mit den ganzen jüngsten Ereignissen ins reine zu kommen. Seit Niallis Verschwinden sind zwei Tage vergangen. Taniane ist überzeugt, daß sie sich irgendwo in der Nähe aufhält, daß sie sich nur verkrochen hat, bis ihr Schmerz sich leergebrannt hat. Ganze Schwadronen der Wachen durchkämmen die Stadt und die Außenbezirke nach ihr.
Doch niemand hat sie gesehen. Und Hresh ist auch überzeugt, daß man sie nicht finden wird.
Sie ist zur Königin geflohen; dessen ist er sich sicher. Wenn sie dort unbeschadet ankommt, denkt er, wird sie ihr künftiges Leben bei den Hjjks verbringen. Sie wird Bürgerin des Nest-der-Nester werden. Und wenn sie an ihre Heimatstadt überhaupt jemals denkt, dann nur, um sie zu verfluchen, weil hier der Mann, den sie liebte, ermordet wurde. Nun liebt sie nur noch die Hjjks. Und zu den Hjjks gehört sie jetzt, sagt er sich. Aber warum? Warum?
Welche Macht üben diese Hjjks über Nialli aus? Welchen Zauber haben sie benutzt, um sie zu sich zu ziehen?
Er fühlt sich verwirrt und schwach. Die Ereignisse haben ihn beinahe gelähmt. Denken strengt ihn unendlich an. Seine Seele liegt wie in einem Sarg aus Eis. Diese Morde — wann hat es in Dawinno zuletzt einen gewaltsamen Tod gegeben? Und Niallis Verschwinden. Er muß zu denken versuchen — zu denken.
Gestern hatte jemand gesagt, jemand habe an dem verregneten Nachmittag weit draußen vor der Stadt ein Mädchen auf einem Xlendi reiten sehen. Aber nur aus der Ferne, ziemlich weit aus der Ferne. Es gab unzählige Mädchen in der Stadt und sehr viele Xlendis. Aber angenommen, es war Nialli. Wie weit konnte sie kommen, allein, unbewaffnet, ohne den Weg zu kennen? Hatte sie sich da draußen auf den leeren Ebenen verirrt und war dem Tode nahe? Oder hatten Hjjk-Banden sie erwartet und führten sie nun zum Nest-der-Nester?
Du kannst einfach nicht wissen, wie das dort ist, Vater... Sie leben in einer Luft voller Träume und Magie und Wunder...
Sie hatte versprochen, ihm das alles zu erklären, ehe sie ihn verlassen würde. Aber es war ihnen keine Zeit geblieben. Und nun war sie fort. Und er begreift noch immer nichts, gar nichts. Nest-Bindung? NestLiebe? Träume? Magie? Wunder?
Er blickt zu dem wuchtigen schweren Kasten mit den Chroniken hinüber: Sein Leben lang durchstöbert er den Wirrwarr der uralten, zum Teil kryptischen Dokumente da drin. Seine Vorgänger haben die zerfallenden Bücher während der Hunderttausende von Jahren im Kokon immer wieder und wieder kopiert. Und seit Hresh ein Kind war, das dem alten Thaggoran über die Schulter lugte, sieht er in diesen Chroniken einen unerschöpflichen Born der Weisheit.
Er öffnet die Siegel und Verschlüsse und hebt die Bände heraus und legt sie nebeneinander auf die glattpolierten weißen steinernen Arbeitstische an den Wänden.
Hier ist das ‚Buch des Langen Winters‘ mit seinen Erzählungen über die Herabkunft der Todessterne. Und hier das ‚Buch Kokon‘, das berichtet, wie der Lord Fanigole und Balilirion und die Lady Theel das VOLK in den Zeiten der Kälte und Finsternis in Sicherheit brachten. Und da, das ist das ‚Buch des Pfades‘ mit den Weissagungen über den Neuen Frühling und die glorreiche Rolle, die dem VOLK bestimmt war, sobald es sich erneut in die Welt begab. Und da war auch das ‚Buch des Auszugs‘, das Hresh persönlich geschrieben hatte — mit Ausnahme der ersten paar Blätter, die noch sein Vorgänger, Thaggoran, als Chronist verfaßte. Darin wird vom Ende des Winters berichtet, von der Wiederkunft der Wärme und vom schließlichen Vorstoß des Stammes ins freie Land.
Und da ist das ‚Bestiarium‘, das alle Tiere aufführt, die es jemals gab. Das ‚Buch der Stunden und Tage‘ über die Mechanik der Welt und des weiteren Kosmos. Und dies hier — der Einband besteht fast nur noch aus verblichenen Fetzen — ist das ‚Buch der Städte‘, und es stehen die Namen aller Hauptstädte der Großen Welt darin.
Und die drei da: Ach, wie traurig! Das ‚Buch Unheils-Dämmerung‘, das ‚Buch Trügerische Morgenröte‘ und das ‚Buch Eisiges Erwachen‘; drei klägliche Berichte über die Zeiten, da Häuptlinge fälschlich glaubten, daß der Lange Winter zu Ende sei, und das VOLK aus dem Kokon führten, nur um von den erbarmungslosen Eisstürmen rasch wieder zurückgetrieben zu werden.
Bezüglich der Hjjks findet Hresh nur die altvertraute Phraseologie. In den dürren Nordlanden, wo die HJJKs in ihrem großen NEST hausen... oder: Und in selbigem Jahr zogen die HJJKs in sehr großer Zahl über das Land und verschlangen alles, was auf ihrem Wege lag... Oder: Es war die Zeit im Jahr, da die mächtige KÖNIGIN der HJJK-Völker eine Horde ihres Volkes entsandte wider die Stadt Thisthissima und eine weitere gewaltige Horde gen Tham... Leeres Historienstroh das Ganze, keine wirklich handfeste Information darin.
Aber Hresh gräbt weiter. Die Bücher ganz unten am Boden der Lade sind namenlos. Es sind die allerältesten, bloße Fragmente voller Lakunen, und in einer dermaßen antiken Schrift geschrieben, daß Hresh nur umrißhaft die Bedeutung erfaßt. Texte aus der Großen Welt sind sie, Gedichte vielleicht, oder dramatische Werke, heilige Schriften — oder gar alles drei zusammen. Wenn er die Fingerspitzen auf sie legt, beleben sich die brüchigen Pergamentbögen mit Bildern von jener grandiosen Zivilisation, welche durch die Todessterne zugrunde ging, Bilder aus jener Zeit der Hochblüte, als die Sechs Völker durch die leuchtenden Straßen der Großen Städte wanderten. Aber alles bleibt nebelhaft, rätselhaft, trügerisch wie in einem Traum. Er legt die Bücher in die Lade zurück und verschließt sie.
Unbrauchbar, das Ganze. Was er braucht, ist ein ‚Buch Hjjk‘, aber er weiß, daß es so etwas nicht gibt.
„Drei Tage schon“, sagte Taniane mit tonloser Stimme. „Ich will wissen, wo sie ist. Und ich will wissen, von was für einem Wahnsinn sie befallen wurde.“
Zorn und Frustration trieben ihre Seele schrecklich um an diesem hellen windigen Herbsttag. Sie hatte keinen Schlaf gefunden. Ihre Augen waren entzündet und schmerzten. Immer wieder überfiel sie ein Schüttelfrost. Aber sie durfte nicht aufgeben. Ruhelos stapfte sie über den Steinboden der Kammer im Hinterteil der Basilika, das sie zum Kommandozentrum für die Suchaktionen nach Nialli Apuilana und gleichzeitig für die Aufklärung der zwei Morde bestimmt hatte.
An der Wand hinter ihr hingen wirr durcheinander Dutzende von Dokumenten — Aussagen von Bürgern, die behaupteten, Nialli an jenem schicksalhaften Nachmittag gesehen zu haben, wilde Gerüchte um drei Ecken herum über angeblich in Kneipen mitangehörte Mordkomplotte, vage Berichte voller Vermutungen von den Stadtgardisten über ihre bisherigen Ermittlungen.