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Nichts davon taugte etwas. Taniane wußte noch immer nicht mehr als an jenem Nachmittag, nämlich gar nichts.

„Du mußt versuchen, ruhig zu bleiben“, sagte Boldirinthe.

„Ruhig! O ja!“ Taniane lachte bitter auf. „Natürlich. Vor allem muß ich mich bemühen, ruhig zu bleiben! Zwei Mordfälle, und meine Tochter verschwunden, unauffindbar, vielleicht irgendwo in einem Kellerversteck, oder wahrscheinlich bereits tot. Und ihr verlangt, daß ich ruhig bin!“

Alle starrten zu ihr her. Der Raum war voll von ‚bedeutenden Persönlichkeiten‘ in diesem Moment. Hresh war da, und wieso sah er auf einmal so verhärmt und alt aus? Und Chomrik Hamadel, der Hüter der Beng-Talismane, und Husathirn Mueri, und der Beng-Justiziar, Puit Kjai, und der kommissarische Hauptmann der Wachen.

„Wieso kommst du auf den Gedanken, sie könnte tot sein?“ fragte Puit Kjai.

„Wenn es sich wirklich um eine umfassende Verschwörung handelt? Ermordet den hjjkischen Gesandten, ermordet den höchsten Polizeibeamten, ermordet die Tochter des Häuptlings, vielleicht den Häuptling selber als nächstes.“

Alle starrten sie ungläubig und stumm an. Sie sah es an ihren Gesichtern, daß sie bereits dachten, sie gehe unter dem Druck in die Brüche. Vielleicht hatten sie damit sogar recht.

Sanft sprach Boldirinthe zu ihr: „Nialli Apuilana ist nicht gemordet worden, Taniane. Sie lebt, und sie wird gefunden werden. Ich habe die Himmlische Fünffaltigkeit befragt, und sie sagen mir, sie ist in Sicherheit, es geht ihr gut, sie ist.“

„Die Heiligen Fünf!“ Tantianes Stimme kreischte fast. „Du hast die Fünf befragt? Ich nehme an, wir sollten auch Nakhaba konsultieren. Sämtliche uns bekannten Götter befragen und möglichst auch noch die, die wir nicht kennen. Und die Hjjkkönigin — vielleicht sollten wir auch sie fragen.“

„Das wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee“, sagte Hresh.

Taniane schaute ihn verblüfft an. „Jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt für plumpe Witze.“

„Du warst plump und zynisch. Ich rede im Ernst.“

„Was sagst du da, Hresh?“

Zögernd sagte er: „Dabei geht es um Dinge, die am besten nur wir beide unter vier Augen besprechen sollten, glaube ich. Es betrifft die Hjjks. Und Nialli.“

Tanianes Hand fuchtelte ungeduldig im Kreis herum. „Wenn es die Sicherheit der Stadt berührt, müßte es sofort hier und jetzt offengelegt werden. Außer natürlich, du hältst Puit Kjai oder Husathirn Mueri oder Boldirinthe für nicht vertrauenswürdig, es zu hören.“

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. „Es handelt sich nur um unsere Tochter. Wohin sie, wie ich vermute, gegangen ist. Und warum.“

„Dann ist es einen Sicherheitssache. Also, heraus damit, Hresh!“

„Wenn du darauf bestehst.“ Hresh seufzte, schwieg aber dennoch weiter, bis sie ihn mit einer gebieterischen Geste antrieb. „Die beiden hatten geplant, gemeinsam zum Nest zu fliehen“, sagte er schließlich, und die Worte kamen ihm nur zögernd von den Lippen. „Nialli und Kundalimon. Zum Nest-der-Nester, dem großen, weit im Norden, wo die Königin lebt. Ihr wißt, sie liebten einander, und sie waren auch Tvinnr-Partner. Sie wollten an dem Leben in dieser Stadt hier nicht teilhaben, alle beide nicht. Es zog sie wie mit einem Magneten zum Nest. Sie sind zu mir gekommen und haben mir was vorerzählt von Nest-Bindung und Königin-Liebe, von Traum und Zauberei, und wie süß die Nest-Luft dir die Seele erfüllt und dich für alle Zeit verwandelt.“

Die Worte trafen sie wie Dolche. Taniane preßte die Hand aufs Herz. Hresh hatte recht: Nie hätte so etwas vor all den anderen hier öffentlich gesagt werden dürfen. Es betraf nur ihre Familie, war skandalös und demütigend. Doch jetzt war es zu spät.

„Das haben sie dir gesagt?“ fragte sie schleppend. „Ja.“

„Wann?“

„Am Tag vor den Spielen. Sie kamen zu mir, um mich um meinen Segen zu bitten.“

Ungläubig fragte Taniane: „Du hast gewußt, daß sie fortlaufen wollten, und hast das für dich behalten?“

Seine Miene verdüsterte sich. Mit dünner Stimme sagte er: „Wie ich dir gerade gesagt habe, es wäre weiser gewesen, wenn wir das unter uns besprochen hätten. Aber du hast ja darauf beharrt, vergiß das nicht! Was Nialli mir anvertraute, habe ich geheimgehalten, Taniane, weil ich wußte, daß du sie daran zu hindern versuchen würdest!“

„Aber du hattest nichts dagegen, daß sie.?“

„Was hätte ich tun sollen? Sie alle beide einsperren lassen? Auch damit wäre gar nichts erreicht gewesen. Du kennst sie doch, unsere Tochter. Nichts hält sie auf. Sie ist wie eine Naturgewalt. Von ihren Plänen hat sie mir aus Liebe erzählt, damit ich es verstehen würde, wenn sie dann fort sein würde. Und sie wußte, daß ich nichts unternehmen würde, sie zu hindern.“

Taniane schüttelte ungläubig den Kopf. Über Hreshs Torheit. Über Niallis zielstrebige Eigenwilligkeit. Und über ihre eigene Idiotie, mit der sie Nialli diesem Kundalimon regelrecht in die Arme getrieben hatte. Nein, Idiotie war es nicht. Es geschah zum Wohl der Stadt. Es hatte da Dinge gegeben, die sie in Erfahrung bringen mußte, und nur Nialli hätte sie ihr beschaffen können. Sie würde es immer wieder tun!

„Du glaubst also, sie ist dorthin? Zum Nest?“

„Ja. Und zwar zum Nest-der-Nester.“

„Obwohl Kundalimon tot ist?“

„Weil Kundalimon tot ist“, sagte Hresh. „Für sie ist das Nest ein Ort voll Liebe und Weisheit. Und als sie von seinem Tod hörte, lief sie fort, um bei den Hjjks Zuflucht zu suchen.“

Im Raum herrschte eine erschreckende Stille.

Taniane zitterte vor rasendem Zorn und ungläubiger Wut. „Aber — das dauert doch Monate, sogar Jahre, um dorthin zu gelangen! Wer weiß schon genau, wie weit es bis zum Groß-Nest ist? Wie konnte Nialli auch nur auf die Idee kommen, es allein zu versuchen?“ Für einen Moment spürte sie, daß sie am Abgrund taumelte. Es war zuviel. Hreshs Hinterhältigkeit. Niallis Wahnsinn. Und jetzt, hier ein Zimmer voller Gesichter mit weiten Augen und klaffenden Mäulern, und alle zu verdattert, um etwas zu sagen. Voll Mitleid mit ihr. Oder vielleicht verachteten die sie ja? Gibt vor, sie regiert die Stadt — und kann nicht einmal die eigene Tochter unter Kontrolle halten. Nein. Nein, sie würde sich davon nicht unterkriegen lassen. Scharf sagte sie: „Du redest törichtes Zeug, Hresh. Wahrscheinlich, daß das Kind vor Liebe den Verstand verloren hat, vielleicht leidet sie sogar an irgendeinem ansteckenden Hjjk-Wahnsinn, den der Junge ihr eingeflößt hat. Aber sie würde niemals dermaßen verrückt sein, daß sie sich allein auf eine derartige Reise wagte. Nicht meine Nialli. Nein, Hresh, ich glaube noch immer, sie hält sich irgendwo hier in der Stadt auf. Versteckt sich, wie ein verwundetes Tier. Bis sie ihren Kummer überwunden hat.“

„Geb’s Dawinno, daß du recht hast“, sagte Hresh.

„Du glaubst das nicht?“

„Ich habe sie und Kundalimon gesehen, am Tag, ehe sie verschwand. Ich hab mit ihr gesprochen. Ich weiß, wie ihre Gefühle für Kundalimon waren. Und auch die zu den Hjjks.“

Zornig entgegnete Taniane: „Dann suche du nach ihr auf deine Weise, und ich setze meine Methoden ein. Du bist doch der, der die übernatürlichen Kräfte hat. Wenn du meinst, sie ist zu den Hjjks unterwegs, dann sende ihr doch deinen wunderbaren Verstand hinterdrein, spüre sie auf, und wenn du kannst, überrede sie heimzukommen. Ich werde aber trotzdem meine Stadtwachen weiter nach ihr suchen lassen.“ Sie blickte zu Husathirn Mueri, der die Morduntersuchungen leitete, und zu Chevkija Aim, dem neuernannten kommissarischen Wachhauptmann. „Ich wünsche alle vier Stunden einen Bericht, auch nachts. Ist das klar? Das Mädchen ist hier irgendwo in der Nähe. Es kann gar nicht anders sein. Findet sie! Die Geschichte dauert schon viel zu lange!“