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Und sie hatte die Fünf Himmlischen akzeptiert.

Was für eine Überraschung! Beim erstenmal war in Nialli kein Fetzchen Gläubigkeit zu entdecken gewesen. Unter der modernen Jugend war solche Gottferne nicht außergewöhnlich. Doch Nialli stand damals der Güte der Götter nicht nur gleichgültig gegenüber, nein, sie hatte sich gegen sie abgeschirmt, sie regelrecht zurückgewiesen.

Jetzt aber spürte Boldirinthe zu ihrem großen Erstaunen in der Seele des Mädchens die Wesenheit der Fünf. Es gab keinen Zweifel an ihrer Nähe, ganz neu und frisch war sie. Alle fünf Aurae, deutlich: Friit und Emakkis, Mueri und Dawinno, besonders hervorgehoben: Yissou-der-Beschützer, breiteten ein göttliches Glühen durch die Wege und Windungen in Niallis Seele. Mit so etwas hätte Boldirinthe bei weitem nicht zu rechnen gewagt. Das göttliche Feuer brannte in dem Kind, und es allein — oder doch beinahe allein — erhielt sie noch im Leben. Vielleicht waren die Himmlischen in sie eingegangen, während sie dem Tode nahe in diesem Sumpf lag.

Doch auch das NEST war in ihr, die Königin war da.

Boldirinthe spürte die gewaltige geballte fremdartige Stärke der Insektenherrscherin; sie überlagerte und durchdrang jede Facette in Niallis Geist, ja vermischte sich sogar wechselseitig mit den Aurae der Fünf auf eine ebenso blasphemische wie unwahrscheinliche Art und Weise. Hjjkisches Licht loderte wie ein zorniges Feuer. Hjjk-Dünste umhüllten Niallis Seele. Klammernde Klauen krallten sich überall fest. Ohne Zweifel, davon mußte das Kind während der Gefangenschaft befallen worden sein. Die Opferfrau mußte sich gewaltig anstrengen, um vor solchen Geheimnissen nicht zurückzuweichen — oder gar in ihre Tiefen hinabgezogen zu werden.

Aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Sie war gekommen, um zu heilen. Und mit der Hilfe der Götter würde sie das Übel austreiben.

Ohne Zaudern machte sie sich ans Werk. Sie rang mit dem Dunklen im Innern der Häuptlingstochter. Sie hackte auf es ein, sie spießte es auf, sie zerschlitzte es bis in seinen Kern. Es schien schwächer zu werden. Die Krallenklauen wirbelten und zuckten. Boldirinthe zerrte eine Kralle los, eine weitere, noch eine, allerdings packten sie beinahe so schnell wieder zu, wie sie sie wegzerrte. Das Ding setzte sich mit wütender Bosheit zur Wehr, peitschte sie mit Kraftgittern, überschüttete sie mit eisig brennenden Sturzbächen. Aber sie wich nicht vor dem Angriff zurück. Ihr Leben lang hatte sie sich auf diesen Augenblick vorbereitet. Immer wieder und wieder regte sich das träge unbesiegbare Ungeheuer, richtete sich auf und sprang, und jedesmal zwang Boldirinthe es nieder, und wieder erhob es sich und wurde erneut zu Boden geschmettert, und Boldirinthe-das-Opferweib schmiedete neue Waffen und wuchtete sich in den Kampf und focht mit all ihren Kräften.

Langsam, widerstrebend zog sich das Ding in die Tiefen von Niallis Seele zurück und verkroch sich dort in der Höhle, in der es sich aufgehalten hatte. Es war nicht besiegt, doch es war zurückgewichen. Nun bestand die Hoffnung, daß Nialli Apuilana allein die Schlacht zu Ende kämpfen konnte. Boldirinthe hatte getan, _ was ihr möglich war.

Dann sprach die Opferfrau zu Friit: „Übernimm du jetzt das Kommando über sie, ich bitte dich, und verleih ihr Stärke.“

„Ja, das mach ich“, antwortete der Gott.

„Und ihr auch, Dawinno, Emakkis, Mueri, Yissou!“

„Machen wir“, antworteten die Götter einer nach dem anderen.

Boldirinthe baute eine Passage für sie, und die Götter traten in Nialli ein und verschmolzen mit ihren bereits in der Seele vorhandenen Auren. Sie stützten Nialli, wo sie schwankte, sie stärkten sie, wo sie geschwächt war, und füllten ihre leeren Stellen auf.

Dann verschwanden sie wieder, einer nach dem anderen.

Zuletzt ging Mueri, doch sie hielt kurz inne und berührte Boldirinthes Seele und umfing sie auf besonders zärtliche Weise, etwa so wie Torlyri sie vor langer, langer Zeit umarmt haben würde. Dann war auch Mueri verschwunden.

Nialli Apuilana bewegte sich. Ihre Augen öffneten sich. Sie blinzelte mehrmals sehr rasch. Dann runzelte sie die Stirn. Und dann lächelte sie.

„Schlaf, Kindchen“, sagte Boldirinthe. „Wenn du aufwachst, bist du wieder bei Kräften.“

Nialli nickte traumverloren. Boldirinthe wandte sich zu Sipulakinain: „Taniane soll reinkommen. Aber nur sie!“

Der Häuptling schleppte eine Wolke von Besorgnis hinter sich herein; doch sie verschwand, sobald Taniane die Veränderung an Nialli bemerkte. Sofort kehrte ihre Persönlichkeitsstärke zurück, und ihre Augen gewannen wieder den alten Glanz. Aber Boldirinthe war zu erschöpft für Dankestiraden. „Ja. Das Werk ist getan. Und gut getan“, sagte sie. „Aber sorgt jetzt dafür, daß das Kind Ruhe hat. Haltet diese Leute von ihr fern, jedenfalls jetzt. Danach: Warme Kraftbrühe und frisch gepreßten Fruchtsaft. In ein paar Tagen wird sie wieder munter und auf den Beinen sein, so gut wie neu, das versprech ich dir.“

„Boldirinthe.“

„Bemüh dich nicht“, sagte die Opferfrau. Das Mädchen hatte die Augen wieder geschlossen und war in einen tiefen gesunden Heilschlaf gesunken. Aurae umglühten ihren Leib. Doch Boldirinthe konnte hinter dem äußeren Erscheinungsbild noch immer die verwundete NestKreatur sehen, tief drunten, den verborgenen inneren Hjjk, er glühte wütend wie eine rotentzündete Wunde. Und Boldirinthe überlief ein leichtes Schaudern.

Aber sie wußte, sie hatte dem Ding einen schrecklichen Schlag versetzt. Alles andere lag nun bei Nialli selbst. Und bei der Fünffaltigkeit, selbstverständlich.

„Helft mir auf“, bat sie. Ihr Atem pfiff leise. Sie fuhr sich über die Stirn. „Oder holt zwei, drei von den anderen rein, wenn ihr’s nicht alleine schafft.“

Taniane lachte. Dann hob sie Boldirinthe ganz mühelos von ihrem Hocker, als wäre sie so leicht wie ein Kind.

In der grauen Steinhalle, im flackernden Schein der grünen Glühkugeln trat Husathirn Mueri auf sie zu und faßte sie am Arm. Er sah gereizt aus und irgendwie hilflos.

„Wird sie leben, Boldirinthe?“

„Aber sicher wird sie. Ganz ohne den geringsten Zweifel!“

Sie wollte weiterwatscheln. An diesem Tag war sie in tiefste Tiefen hinabgestiegen und von da wieder zurückgekehrt, und das hatte sie ziemlich viel körperliche und seelische Kraft gekostet. Sie hatte im Augenblick nicht die geringste Lust, sich hier aufhalten zu lassen, um mit Husathirn Mueri zu schwatzen.

Aber der hielt sie weiterhin fest. Ließ einfach nicht los. Ein heuchlerisch warmes Grinsen zog über sein Gesicht.

„Du bist allzu bescheiden“, schmeichelte er. „Ich kenne mich selbst ein wenig in den Heilkünsten aus. Dieses Mädchen lag im Sterben, ehe du hergekommen bist, um sie zu behandeln.“

„Nun, jedenfalls stirbt sie jetzt nicht mehr.“

„Ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet.“

„Ach ja, da bin ich mir ganz sicher.“

Sie schaute ihn lange scharf an, versuchte, hinter den Sinn seiner Worte zu kommen. Bei ihm mußte man stets gewärtig sein, daß sich hinter seinen Äußerungen etwas Doppeldeutiges verbarg. Sogar wenn dieser Mann nieste, hatte das irgendwie etwas Hinterhältiges.

Husathirn Mueri erträglich oder nett zu finden, das war etwas, was Boldirinthe niemals möglich gewesen war, und dies beunruhigte sie ein wenig, denn sie fand es abscheulich, irgendwen widerwärtig zu finden; aber er war außerdem auch noch Torlyris Sohn, was die ganze Sache nur noch schlimmer machte. Torlyri hatte sie so sehr geliebt, wie sie die eigene Mutter nicht hätte inniger lieben können. Und da war jetzt dieser Husathirn Mueri, ein alerter Mann, gescheit, attraktiv und gewissermaßen sogar warmherzig, und er sah nun einmal Torlyri ziemlich ähnlich; mit diesen leuchtendweißen Streifen in seinem schwarzen Pelz. Und dennoch brachte Boldirinthe es nicht über sich, den Mann zu mögen. Sie mochte ihn ganz und gar nicht! Es ist seine Schläue, dachte sie, und sein ungehemmter Ehrgeiz. Woher stammten diese Eigenschaften? Gewißlich nicht von Torlyri. Und auch nicht von seinem Vater, diesem nüchternen, unbeugsamen Bengkrieger. Na ja, sagte sie sich, auch die Götter gehen manchmal geheimnisvolle Wege. Und jeder von uns ist eines ihre ganz besondren Rätsel.