Dann stürzte er vornüber in den Schnee.
Finster hob Salaman ihn auf und trug ihn, als wäre er federleicht. Er bedeutete Biterulve, alle drei Xlendis zusammenzubringen und ihre Zügel zu verknüpfen, damit man sie wegführen könne. Zu Fuß machten sie sich dann in die Innenstadt auf. Ein paar hundert Schritt entfernt lag ein Wachposten.
Als sie darauf zugingen, sah Salaman etwas derart Seltsames, daß er sich fragte, ob er vielleicht noch immer neben Sinithista im Bett liege. Noch ein paar hundert Schritt tiefer in der Stadt befand sich ein Platz, und Salaman, den bewußtlosen Fremden in den Armen, konnte von der Front der Wachstube die Straße hinab auf diese Plaza sehen. Im Schein von Fackeln hüpften und tanzten dort etwa zwanzig, dreißig Gestalten im Kreis herum. Männer und Weiber gemischt, auch ein paar Kinder darunter, alle nackt, oder doch fast nackt, mit nichts weiter als Leibbinden und Stolen bekleidet, bewegten sich in einem wilden Freudenreigen durch den Schnee, fuchtelten mit den Armen, schleuderten hektisch den Kopf in den Nacken und rissen die Knie bis zur Brust hoch.
Vor Salamans verblüfften Augen beendeten sie die Umkreisung der Plaza und verschwanden am anderen Ende in der Straße der Confiseure.
„Biterulve?“ fragte er zweifelnd. „Hast du sie ebenfalls gesehen, diese Menschen auf der Plaza der Sonne?“
„Die Tänzer? Ja.“
„Ist heut nacht die ganze Stadt wahnsinnig geworden, oder spinne nur ich?“
„Das waren Anerkenner oder Bekenner, glaube ich.“
„Anerkenner? — Was ist das?“
„Das sind Leute — also so ’ne Art Leute, die.“ Biterulve brach mit einer verwirrten Geste ab und zeigte die leeren nach außen gekehrten Handflächen. „Ich weiß nicht genau, Vater. Du solltest Athimin fragen. Der weiß einiges über sie. Aber, Vater, wir müssen den Mann da ins Warme bringen, oder er stirbt uns.“
„Ja. Ja gewiß.“ Salaman starrte immer noch auf die Plaza. Sie war inzwischen völlig leer. Wenn ich jetzt dort hinübergehe, überlegte er, werde ich dann ihre Spuren im Schnee sehen, oder gehört das, was Biterulve sagt, auch zu meinem Traum? Anerkenner — Bekenner. Wen erkennen die an, was bekennen diese Leute?
Er trug den Kurier in die Wachstube.
Drei Wächter mit verschwiemelten Augen, allzu sichtbar aus dem Schlaf gerissen, kamen ihm entgegen. Als sie den König erkannten, husteten sie verlegen und krochen entsetzt in sich zusammen, dann salutierten sie. Aber der König hatte jetzt keine Zeit, sich mit derartigen Kreaturen zu befassen. „Macht ein Bett bereit für den Mann da, besorgt heiße Brühe und zieht ihm trockene Sachen an!“ befahl er. Und leiser, zu Biterulve, sagte er: „Schau in den Satteltaschen seines Xlenid nach. Ich will diese Botschaft sehen, ehe Thu-Kimnibol sie erhält.“
Er starrte seine Fingerspitzen an, während er auf die Rückkehr des Jungen wartete.
Wenige Minuten späte brachte Biterulve ihm ein Paket. „Das ist es, glaub ich.“
„Lies es mir vor. Meine Augen sind heut nacht nicht besonders gut.“
„Es ist versiegelt, Vater.“
„Dann brich das Siegel auf. Aber vorsichtig.“
„Ist das klug, Vater?“
„Gib schon her!“ fuhr Salaman ihn an und entriß ihm das Päckchen. In der Tat, es trug das rote Sigill Tanianes mit dem Häuptlingszeichen. Eine Geheimbotschaft an Thu-Kimnibol. Nun, es gibt Methoden, Versiegeltes zu öffnen. Er brüllte den Wachen zu, sie sollten ihm ein Messer bringen und eine Fackel. Dann erwärmte er das Siegel, bis es weich war, und hob es vorsichtig mit der flachen Schneide ab. Das entfaltete Päckchen erwies sich als ein einzelnes breites Blatt Pergament.
„Und jetzt, lies es mir vor!“ befahl der König.
Biterulve legte die Finger auf das Blatt, und die darauf geschriebenen Worte wurden lebendig. Anfangs war er anscheinend etwas verwirrt, da er in der bengisch beeinflußten Lineatur nicht geübt war, die in letzter Zeit in Dawinno in Mode gekommen war; doch er brauchte nur einen Moment, um sein Gehirn anzupassen. „Ein sehr kurzer Text. Kehre sofort zurück, ohne Rücksicht auf den Stand der Dinge, schreibt Taniane. Und dann: Es sieht hier sehr schlecht aus. Wir brauchen dich.“
„Das ist alles?“
„Das ist alles, Vater.“
Salaman nahm ihm den Brief ab, faltete ihn und drückte behutsam das Siegel wieder darauf. „Steck es wieder in die Satteltasche, genau wo du es gefunden hast“, befahl er.
Einer der Gardisten erschien. „Er kann die Brühe nicht bei sich behalten, Herr und König. Er ist zu geschwächt. Es sieht so aus, als war er halbverhungert und erfroren. Ich glaube, er stirbt, ja, das glaub ich.“
„Flößt ihm die Bouillon eben gewaltsam ein“, sagte der König. „Ich will nicht, daß er mir unter den Händen stirbt! Los, Mann, steh nicht so blöd da rum!“
„Hat keinen Zweck mehr“, sagte ein zweiter Wachsoldat. „Der Kerl ist bereits hinüber, Herr.“
„Tot? Bist du sicher?“
„Also, er hat sich aufgerichtet, irgendwas auf bengisch gerufen, und dann hat er am ganzen Leib so zu schütteln angefangen, daß es ganz scheußlich war. Und dann fiel er auf das Bett zurück und hat sich nicht mehr bewegt.“
Ach, diese verweichlichten Südländer, dachte Salaman. Ein Ritt von ein paar lächerlichen Wochen durch eine kältere Gegend, und sie fallen tot um.
Doch den Wachposten zuliebe schlug er hastig ein paar der heiligen Zeichen, brummte ein „Yissou-sei-ihm-gnädig“ und befahl ihnen, einen Heilkundigen herbeizuholen, falls in dem Kerl doch noch ein Funken Leben stecken sollte. Aber außerdem sollten sie Vorsorge für seine Beisetzung treffen. Zu Biterulve sagte er: „Führ sein Xlendi in die Palast-Stallungen. Dann bringst du seine Satteltaschen in meine Privatgemächer und verschließt sie dort gut. Danach begibst du dich zum Gästehaus und weckst Thu-Kimnibol. Unterrichte ihn über das Vorgefallene und sag ihm, er könne seine Kurierpost in Empfang nehmen, wenn er zur Morgenvisite in den Palast kommt.“
„Und du, mein Vater?“
„Ich geh noch einmal für eine Weile in meinen Pavillon, glaub ich. Ich möchte mir über einiges klarwerden.“
Dann ging er hinaus. Er spähte nach links, die Straße entlang und hinüber zur Plaza der Sonne, um zu sehen, ob diese Tänzer vielleicht zurückgekommen waren. Diese Anerkenner und Bekenner. Aber der Platz war leer. Er fuhr sich mit der Hand über die fiebrig-pochende Stirn, bückte sich, schaufelte eine Handvoll Schnee auf und rieb sich damit die Schläfen. Es half ein wenig.
Inzwischen war es kurz vor dem Morgen. Der Wind heulte unvermindert weiter. Aber es hörte nun auf zu schneien. Die Flocken bedeckten erstaunlich hoch die Erde. In dreißig Jahren hatte er keinen derart heftigen Schneefall erlebt. War das vielleicht der Grund, warum diese Leute mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen gekommen waren? Um im Schnee, in seiner ungewohnten frischen Neuheit zu tanzen?
Anerkenner — Bekenner — Erkenner — er spielte mit den Bedeutungen.
Ich muß unbedingt gleich heute früh mit Athimin über das reden!
Dann stieg er die Stadtmauer hinauf und stand lange im Auslug seines Pavillons und starrte auf die Ödnis der Südlichen Ebenen hinaus, bis sein Gehirn völlig leer von Gedanken war und sein schmerzender Leib einen Teil der muskulären Verspannung verloren hatte. Nach und nach zeigte sich im Osten ein rosiger Lichtschein. Diese ganze Nacht war nichts als ein Traum, sagte Salaman zu sich. Er fühlte die seltsame Überwachheit der Erschöpfung, als sei er in einen Zustand sogar jenseits der denkbaren körperlichen Müdigkeit eingetreten — oder vielleicht, als wäre er bereits gestorben, irgendwann in dieser Nacht, ohne es zu bemerken. Langsam stieg er die Treppe hinab, und langsam ritt er dann durch die erwachende Stadt zu seinem Palast zurück.
Athimin kam zuerst zu ihm, als er sich am Morgen im Thronsaal in etwas gespenstischer Ruhe der Audienz widmete. Die Bewegungen des Prinzen waren ein wenig seltsam, als er sich zeremoniengerecht dem Thron näherte, sie wirkten irgendwie gehemmt, und Salaman gefiel das gar nicht. Sonst legte Athimin eher ein entschlossenes, eher derbes Gehabe an den Tag, wie es dem Zweitältesten der acht Königlichen Prinzen durchaus angemessen war. Diesmal aber schien er auf den Thron nicht stolz zuzuschreiten, sondern eher näher zu kriechen, und er warf seinem Vater dabei wachsame Blicke zu — wie über einen zum Schutz vor Prügeln vors Gesicht gehobenen Arm hinweg.