„Ach, das überlaß ruhig mir“, sagte Salaman.
Auch im Süden in der Stadt Dawinnos war das Wetter problematisch gewesen: zwar ohne schwarze Winde hier, auch ohne Hagel oder Schnee, aber wochenlang fielen die Regen unablässig, bis daß Berghänge sich zu Lehmbächen verwandelten und hohe Wasser die Straßen überfluteten. Es war der übelste Winter seit der Stadtgründung.
Das Firmament war von einem bleiernen Grau, die Luft kühl und zugleich drückend, die Sonne schien für immer dahin.
Das primitive Volk begann sich zu fragen, ob etwa wieder ein Todesstern auf die Erde herabgestürzt sei und der Lange Winter zurückkehren werde. Aber die dummen Leute hatten sich solcherlei Sachen immer schon gefragt, seit das VOLK aus dem Kokon aufgebrochen war, wann immer das Klima und die Witterung ihnen nicht angenehm waren. Klügere Leute wußten natürlich, daß zu ihren Lebzeiten für die Welt keine Gefahr bestand, daß ein neuer Langer Winter eintreten könnte, weil derartige Katastrophen nur alle paar Millionen Jahre die Erde trafen, und daß die jüngste derartige Katastrophe auf dem Planeten vorbei und erledigt war. Aber sogar diese etwas klügeren Leute nörgelten über die trostlosen nicht endenwollenden, tage- und nächtelangen Regenfälle, und wenn das Flutwasser durch die niederen Stockwerke ihrer luxuriösen Häuser gurgelte, litten sie.
Nialli Apuilana verließ ihr Zimmer hoch oben im ‚Nakhaba-Haus‘ nur selten. Dank der hilfreichen Tränklein und aromatischen Kräuter und der Gebetsanrufungen Boldirinthes war es ihr gelungen, die Fieber und Pestilenzen auszutreiben, die sich ihrer bemächtigt hatten, während sie erschöpft im Sumpf lag, und sie hatte ihre Vitalität zurückgewonnen. Aber Zweifel und Verwirrung setzten ihr weiter zu, und dagegen gab es eben keine Zaubertränklein. Die meiste Zeit blieb Nialli für sich. Einmal erschien Taniane, aber der Besuch erwies sich als für beide stark spannungsgeladen und unbefriedigend. Kurz danach fand Hresh sich ein. Er nahm sie bei den Händen und hielt sie und lächelte sie an und blickte ihr tief in die Augen, als könnte er mit einem tiefen Blick all ihre Kümmernisse lindern.
Sonst empfing sie niemanden. Von Husathirn Mueri kam ein Billet, in dem er fragte, ob sie ihm das Vergnügen bereiten wolle, mit ihm zu Abend zu speisen. Sie würdigte ihn keiner Antwort.
„Du bist enorm gescheit“, sagte der junge Beng-Priester, der das Zimmer nebenan hatte, eines Tages, als sie sich ihr Essentablett vom Gang holte. „Du kuschelst dich da die ganze Zeit gemütlich ein. Das würde ich auch liebend gern machen. Dieser Drecksregen hört und hört einfach nicht auf.“
„Ach ja?“ antwortete Nialli gleichgültig.
„Eine echte Plage, ein Fluch, eine Gottesgeißel von Nakhaba, das ist “
„Ach ja?“
„Die ganze Stadt wird fortgespült. Ist wirklich gescheiter, wenn man im Haus bleibt, kann ich nur sagen. O ja, du bist sehr gescheit!“
Nialli nickte und lächelte ihm bläßlich zu, ergriff ihr Tablett und verschwand in ihrem Zimmer. Danach schaute sie immer zuerst auf den Flur, um sich zu vergewissern, daß der leer war.
Aber sie ging danach auch manchmal ans Fenster und schaute dem Regen zu. Meistens aber saß sie mit gekreuzten Beinen mitten in ihrem Zimmer und wusch und kämmte sich stundenlang mechanisch das Fell und ließ die Gedanken ziellos ins Weite schweifen.
Hin und wieder nahm sie den Hjjk-Stern von der Wand, das aus Gras geflochtene Amulett, das sie vor Jahren aus dem Nest mitgebracht hatte. Und das hielt sie sich dann vor die Augen und starrte auf die leere Stelle in der Mitte und ließ ihr Denken treiben. Manchmal konnte sie da das rosige Schimmern des Nestlichts sehen und verschwommene Gestalten, die sich dort bewegten: Soldaten, Eierproduzenten, Erwecker, NestDenker. Einmal glaubte sie sogar einen flüchtigen Blick in die KöniginKammer und auf den darin bewegungslos ruhenden geheimnisvollen massigen Rumpf erhascht zu haben.
Doch es waren undeutliche Visionen. Meistens sah sie in ihrem Stern gar nichts.
Ihr war nicht recht klar, wohin sie als nächstes gehen sollte, noch was sie tun sollte, noch auch, wer sie eigentlich war. Sie kam sich zwischen Welten verloren vor, auf rätselhafte Weise in der Schwebe und hilflos.
Der Tod Kundalimons hatte für sie auch den Tod der Liebe bedeutet, das Sterben der Welt. Niemand hatte sie so tief verstanden wie er; und sie hatte noch nie für einen anderen so abgründiges Verständnis gefühlt. Es war nicht nur die Tvinnr-Bindung — und schon gar nicht die Kopulation —, die sie aneinander gebunden hatte. Es war das sichere Gefühl der gemeinsamen Vorerfahrung, des gemeinsamen Ur-Wissens. Die Nest-Bindung. Sie hatten beide die Königin berühren dürfen, und die Königin hatte sie gesegnet — und von da an war die Königin zwischen ihren Seelen wie eine Brücke gewesen, über die sie beide freien Zugang zu dem anderen finden konnten.
Aber es war nur ein Anfang gewesen. Und dann war ihr Kundalimon entrissen worden. Und alles, alles war zu Ende.
Was allerdings kein Ende zu nehmen schien, war der Regen. Denn es regnete weiter, auf die Stadt und über der Bucht, in den Bergen und über dem Seendistrikt. Östlich vom Emakkis-Tal, im Agrarbezirk Tangok Seip, wo die innere Kette der Küstenberge allmählich höher zu werden begann, stürzte der Regen mit solcher Gewalt nieder, daß er ganze Schlammlawinen von den Hängen riß, die sich in Sturzbächen ergossen, wie man dies seit Gründung der Stadt nicht gekannt hatte. Ganze Berghänge wurden glatt abgesägt und rutschten ins Tiefland hinab.
Ein Stadrain-Bauer namens Quisinimoir Flendra, der ein kurzes Abflauen des letzten Sturms ausnutzen wollte, nach einem Preisbullen seiner Vimborzucht zu suchen, der aus dem Corral ausgebrochen war, zog an einer Bergflanke im Regen dahin, als der Boden sozusagen unter seinen Füßen wegsackte. Er warf sich nieder und grub die Finger in den Modder und rechnete sicher damit, daß er über den Rand in diesen gerade entstandenen Abgrund gerissen und lebendigen Leibes begraben werden würde. Es gab ein entsetzliches schwindelerregendes Getöse, eine Art saugendes Röhren, einen schmatzenden Donner.
Quisinimoir Flendra krallte sich fest und flehte zu jedem Gott, dessen Name ihm grade einfiel. Vorab zu seinem eigenen Gott, dem AllErbarmer, dann zu Nakhaba, der für Interventionen zuständig war, danach zu Yissou, Dawinno und Emakkis. Es fiel ihm etwas schwer, sich an die Namen der restlichen zwei Koshmari-Götter zu erinnern, als ihm plötzlich auffiel, daß der Berg aufgehört hatte, ins Tal zu fahren.
Er schaute in die Tiefe. Vor ihm war sichelförmig der Hang weggebrochen, und es zeigte sich glatte braune Erde mit einem Klöppelgeflecht nackter heller Wurzeln.
Es zeigte sich auch noch mehr. So zum Beispiel ein mächtiger gekachelter Bogen; eine Reihe stämmiger Säulen, deren Basen irgendwo tief im Grund verborgen lagen; verstreute Fragmente und Scherbentrümmer von zerborstenen Konstrukten wie Müll auf dem neu aufgebrochenen Hang verteilt. Da Flendra köpf unter hing, vermochte er den Eingang zu einer Höhle auszumachen, und er spähte in ehrfürchtigem Grausen in ihre geheimnisvollen Tiefen.
Dann setzte der Regen erneut ein. Der Hang konnte weiter einbrechen und ihn mit sich in die Tiefe reißen. Also krabbelte er eilends auf der Rückseite des Berges hinab und machte sich zu seinem Haus auf.
Er sprach mit keinem über das, was er gesehen hatte.
Aber er konnte es nicht loswerden. Es stahl sich sogar in seine Träume hinein. Er begann sich einzureden, daß die Bewohner der Großen Welt noch immer in diesem Berg hausten: die trägen, ernsten massiven Saphiräugigen krochen dort mit reptilischer Grazie umher, sprachen in mystischen Gedichtzeilen zueinander. Und die langgliedrigen, so empfindlichen bleichen Menschlinge waren auch da. Und die blütenbesetzten Vegetabilischen. Die Mechanischen mit ihren Kuppelschädeln. Und alle, alle die anderen verwirrenden und hinreißend aufregenden Wesen aus jener grandiosen Zeit. Und sie lebten immer weiter in einem schützenden Kokon.