Sie begreift es nicht. Wieso schwankt sie derart von einem Pol zum anderen? Wie kann es geschehen, daß sie die Himmlischen Fünf in sich trägt — und zugleich auch die Königin? Wohin gehört sie? Zur Stadt oder zum Nest, zum Volk oder zu den Hjjks?
Vielleicht zu beidem. Oder zu keinem von beiden.
Wer bin ich? fragt sie sich verwundert. Und was bin ich?
Ein andermal erschien Kundalimon vor ihr. Es war gegen Abend. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Lampen in dem kleinen Zimmer anzuzünden, und so breitete sich früh die regentrübe Dämmerung über alles. Sie sah ihn an der Wand der Tür gegenüber stehen, dort wo der aus Halmen geflochtene Hjjk-Stern hing.
„Du?“ flüsterte sie.
Er gab keine Antwort, sondern stand nur so vor ihr da und lächelte.
Ihn umgab ein irgendwie golden schimmerndes Leuchten. Aber in dieser Lichtaura sah er genauso aus wie während der letzten Wochen seines Lebens: schlank, ja fast zerbrechlich, und dennoch auf drahtige Weise stark, und dieses heiße Strahlen in den Augen.
Zuerst scheute sie davor zurück, ihn sich zu genau anzusehen, weil sie fürchtete, an seinem Leib die Spuren der Gewalt zu entdecken. Doch dann faßte sie Mut und sah, daß er unverletzt war.
„Du trägst ja deine Amulette gar nicht“, sagte sie.
Er lächelte und schwieg.
Vielleicht hat er sie jemand gegeben, dachte sie. Einem der Kleinen, mit denen er so gern auf der Straße gesprochen hat. Oder er hat sie dem Nest zurückgegeben, weil jetzt seine Mission beendet ist.
„Komm doch näher“, sagte sie. „Damit ich dich berühren kann.“
Er aber schüttelte den Kopf und lächelte die ganze Zeit. Und Ströme von Liebe gingen von ihm aus. Es war gut. Sie brauchte ihn gar nicht zu berühren. Sie fühlte eine große Ruhe, eine totale Sicherheit. Es gab vieles auf Erden, was sie nicht verstehen konnte, was sie wahrscheinlich niemals begreifen würde. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war nur, gelassen zu bleiben und voll Liebe und Offenheit und anzunehmen, was kommen mochte.
„Bist du bei der Königin?“ fragte sie.
Er schwieg.
„Liebst du mich?“
Ein Lächeln. Nichts weiter als dieses Lächeln.
„Du weißt, daß ich dich liebe.“
Er lächelte. Er war wie ein Tabernakel aus Licht.
Er blieb stundenlang bei ihr. Schließlich nahm sie wahr, daß er allmählich blasser wurde und zu schwinden begann, doch das geschah so langsam, daß man von Augenblick zu Augenblick nicht hätte behaupten können, daß er von ihr ging. Doch dann war er ganz verschwunden.
„Kommst du zurück?“ fragte sie. Sie hörte keine Antwort.
Aber er kam wieder zu ihr. Stets bei Einbruch der Dämmerung. Dann stand er manchmal an ihrem Lager, manchmal vor dem Grasstern. Nie sprach er etwas. Aber immer lächelte er. Und stets erfüllte er den Raum mit Wärme und mit jenem tiefen Gefühl von Wohlbehagen und Gelassenheit.
Inzwischen war Thu-Kimnibol fast zum Aufbruch in seine Stadt bereit. Er blickte zu Weiawala, Salamans Tochter, hinab und spürte den Schwall von Furcht und Trauer und Trennungsangst, der von ihr ausging. Ihr kastanienrotes Fell hatte fast all seinen Schimmer verloren. Ihr Sensor ragte in scharfem Winkel verkrampft empor. Sie machte einen ganz verlorenen Eindruck und wirkte ganz schrecklich verängstigt. Und sie sah so bestürzend klein aus, viel kleiner, als sie ihm je zuvor erschienen war. Doch von seiner großen Länge herab sahen alle Frauen klein aus. Die meisten Männer übrigens auch.
„Also gehst du nun doch von uns?“ fragte sie und schaute ihm dabei nicht direkt in die Augen.
„Ja. Esperasagiot hat die Xlendis bereit. Dumanka ist mit der Ausrüstung und dem Proviant der Wagen fertig.“
„Also — kommt nun der Abschied.“
„Für diesmal.“
„Ja, für diesmal.“ Es klang bitter. „Deine Stadt ruft dich. Deine Königin.“
„Unser Häuptling, meinst du.“
„Ach, es ist egal, wie du sie nennst. Sie sagt, komm! Und du springst! Und dabei bist du ein Prinz, sagen sie jedenfalls!“
„Weiawala, ich bin seit vielen Monden hier. Mein Staat braucht mich. Ich hab von Taniane den direkten Befehl zur Rückkehr erhalten. Prinz her oder hin, wie könnte ich den Gehorsam verweigern?“
„Aber ich brauch dich auch!“
„Ich weiß.“
Er betrachtete sie verwirrt. Es würde ja ganz leicht sein, sie in die Arme zu reißen und sie vor Salaman zu tragen und ihm zu sagen: „Hör mal, lieber Cousin, ich möchte deine Tochter zu meiner Gefährtin haben. Laß mich sie mit nach Dawinno nehmen, und in etlichen Monden kehren wir zurück und begehen dann hier in deinem Palast feierlich die offizielle Hochzeit.“ Denn genau das hatte ja Salaman wohl vom ersten Moment an im Sinn gehabt, als er ihm die junge Frau anbot, „damit sie dir heut nacht das Bett wärmt“, wie der König sich in seiner fröhlich-derben Manier auszudrücken beliebt hatte.
Nicht als Konkubine, sondern als potentielle Lebenspartnerin hatte Salaman ihm Weiawala zugeführt, daran gab es für Thu-Kimnibol keinen Zweifel. Nichts lag dem König mehr am Herzen, als diesen alten Bruch zwischen ihnen beiden durch eine eheliche Verbindung seiner Familie mit dem mächtigsten Mann in Dawinno zu heilen. Und auch für Thu-Kimnibol wäre eine solche Aussicht vielversprechend gewesen. Selber eines Königs Sohn und dann noch Ehegemahl der Tochter des Nachfolgers dieses Königs. Sein Anspruch auf den Thron in Yissou würde damit ziemlich stark sein, falls dieser Thron frei werden und aus irgendwelchen Gründen kein Salaman-Sohn in der Lage sein sollte, ihn zu besteigen.
Dem standen zwei Hindernisse im Wege.
Das eine war, daß es einfach noch zu früh nach Naarintas Tod war, als daß er sich eine neue Partnerin hätte zulegen dürfen. Er gehörte zur Kaste der Edlen; man mußte auf Dekorum achten, und es galt, die Gefühle von Naarintas Familie zu berücksichtigen. Ganz gewiß würde er sich wieder partnerbinden, aber doch nicht schon jetzt und so überstürzt.
Davon abgesehen gab es aber ein tieferes Hemmnis. Er fühlte für Weiawala keine Liebe, jedenfalls nicht jene Art Liebe, die den Wunsch nach Partnerschaft entstehen läßt. Gewiß, seit seinem ersten Abend hier am Hof waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten voll Eifer und Leidenschaft immer wieder kopuliert, aber sie hatten kein einzigesmal getvinnert. Thu-Kimnibol hatte es einfach nach dieser Intimität nicht verlangt, und auch Weiawala hatte durch nichts ein Interesse daran erkennen lassen. Und das, dachte er, war eben bezeichnend. Was wäre eine Ehepartnerschaft schon ohne Vertvinnerung — eine leere Sache.
Und außerdem war sie ja wirklich fast noch ein Kind — kaum älter, vermutete er, als seine Nichte Nialli Apuilana. Wie hätte er ein Kindweib zur Partnerin nehmen können? Er hatte die vierzig Jahre bereits überschritten, war bereits ein alter Mann, wie manche sagen würden. Nein! Weiawala war ihm in diesen Monden in Yissou eine genußvolle Bettgenossin gewesen, doch nun hatte die Sache ein Ende. Er mußte sie verlassen, sie aus seinen Gedanken verbannen, und wenn sie noch so sehr bettelte und wimmerte.
Das alles empfand Thu-Kimnibol als alles andere als ehrenhaft. Doch er würde Weiawala dennoch nicht mit nach Dawinno nehmen.
Wie er da so stand und verlegen nach Worten suchte, die das junge Weib beruhigen konnten — oder doch ihm zumindest einen würdevollen Abgang erlauben würden, trat der Königssohn Biterulve (der mit dem falben Fell, dieser bildhübsche, blitzgescheite Junge) vor sie hin. Er ergriff Thu-Kimnibols Hand mit selbstsicherer Bestimmtheit.