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„Nach Norden. Es ist offenkundig, daß euch das Leben in Yissou, inmitten unserer erbärmlichen Verweichlichung, nicht glücklich macht. Und ich sage dir ehrlich, daß auch ich keine große Freude bei dem Gedanken empfinde, daß du mit den Deinen euren Glauben von der unvermeidlichen Vernichtung der Stadt, die ich liebe, weiterhin verbreitet. Es ist also sowohl in eurem wie in meinem Interesse, daß ihr hier wegzieht, meinst du nicht auch? Nach Süden würdet ihr natürlich nicht gehen wollen. Denn dort ist das Leben für euch bestimmt viel zu angenehm. Außerdem, unsere Stadt wird sich in die Regionen südlich von uns ausbreiten, Dawinno wird sich nordwärts ausdehnen, so daß wir also zwangsläufig euch und eure persönliche Lebensform beeinträchtigen müßten. Kälte macht euch nichts aus, sagtest du. Hungern bedeutet euch nichts. Also zieht nach Norden, Zechtior Lukin. Es gibt Land massenweise im Norden, wo ihr eine Siedlung gründen könnt, in der ihr ganz nach euren Vorstellungen und Glaubensprinzipien leben könnt. Es könnte ja leicht die Hauptstadt der großen, reinen und sauberen Welt werden, die wir aus den Großen Städten zu schaffen unterlassen haben.“

„Du meinst, wir sollen ins Hjjk-Land gehen?“

„Ja, das meine ich. Sogar über Vengiboneeza hinaus und weit bis in die trockenen kalten Nordlande hinein. Dort wählt euch eine Gegend, die euch paßt. Es kann sogar geschehn, daß die Hjjks euch unbehelligt lassen. Nach deiner Aussage ist eure Lebensart der ihren ja sehr ähnlich: Krieger, die keine Unbill schreckt, ohne persönlichen Ehrgeiz. Da ihr ihnen so ähnlich seid, heißen sie euch vielleicht sogar willkommen. Oder sie beachten euch gar nicht. Was sollten sie auch einige hundert Neusiedler stören, wo sie doch einen halben Kontinent zur Verfügung haben? Ja, zieht zu den Hjjks! Was hast du dazu zu sagen, Zechtior Lukin?“

Schweigen. Zechtior Lukins Gesicht blieb ausdruckslos: Kein Anzeichen von Verärgerung, kein Trotz, nicht einmal Bestürzung. Es ging etwas in dem Kopf vor, doch der Mann sah so unbeeindruckt aus, als hätte der König ihn irgendwas über die Fleischpreise gefragt.

„Wie lange gibst du uns Zeit, um uns auf den Auszug vorzubereiten?“ fragte er schließlich.

Nialli Apuilana hat die unerträgliche Einsamkeit satt. Die ganzen letzten Monde war sie sozusagen in einem Winterschlaf gewesen; wie ein Tier, das alljährlich eine Metamorphose durchmacht und sich in seinem Geweb verborgen ruhend auf die Zeit des Ausschlüpfens vorbereitet. Und nun ist diese Zeit da. An einem Spätwintertag, an dem der Regen in Sturzbächen niederprasselt, die in Dawinno sogar für diese Jahreszeit erbarmungsloser Regen erstaunlich sind, verläßt Nialli am frühen Nachmittag ihr Zimmer im Nakhaba-Haus. Hin und wieder ist sie schon gelegentlich spät nachts ausgegangen, doch nun ist es das erstemal seit ihrer Genesung, daß sie sich am Tag hinauswagt. Es ist aber auch niemand unterwegs, der sie sehen könnte, denn der Sturm bläst dermaßen wild, daß die Straßen ganz verlassen sind. Nicht mal die Wachposten sind da. Hinter allen Fenstern brennt Licht, und die ganze Stadt hängt in den Häusern herum. Aber Nialli lacht dem wilden Sturm ins Gesicht. „Es ist wirklich verdammt zuviel“, sagt sie laut mit einem Blick zu Dawinno im Himmel hinauf. Er ist es, der das große Rad der Jahresgezeiten dreht und heute Sonne sendet und morgen Sturm. „Du übertreibst es ein bißchen, findest du nicht?“ Sie hat außer einer Stola nichts am Leib. Und sie hat noch keine fünf Schritte getan, da ist ihr Fell völlig durchnäßt. Es klebt wie ein enger Mantel an ihr, und das Wasser läuft ihr die Schenkel hinab.

Sie geht quer durch die Stadt zum Haus des Wissens und steigt dort die Wendeltreppe zum obersten Stockwerk hinauf. Sie hat keinen Moment daran gezweifelt, daß Hresh dort sein würde. Und da hockt er auch und kritzelt eifrig in einem seiner riesigen alten Bücher.

„Nialli!“ ruft er. „Hast du den Verstand verloren? Bei so einem Wetter auszugehen? Komm her, laß dich abtrocknen.“

Er wickelt sie in ein Tuch und knuddelt sie, als wäre sie ein kleines Kind. Widerstandslos läßt sie sich trockenreiben, obwohl davon ihr Fell ganz unfein durcheinandergerät.

Als er fertig ist, sagte sie: „Vater, wir sollten damit anfangen und uns einiges sagen. Es wäre schon längst an der Zeit dafür gewesen.“

„Einiges? Was denn?“

„Nun, Dinge über das Nest.“, sagt sie zögernd. „Über — die Königin.“

Er schaut sie ungläubig an. „Du willst wirklich mit mir über die Hjjks reden?“

„Über die Hjjks, ja. Über das, was du über sie erfahren hast, und über das, was ich weiß. Das ist möglicherweise nicht ganz dasselbe. Du hast immer gesagt, du willst die Hjjks besser verstehen lernen. Nun, du bist nicht allein. Ich muß sie auch besser verstehen, Vater, ich auch.“

Chevkija Aim zeigte auf ein verwittertes rauchgraues rundes Holztor am Ende einer Sackgasse direkt an der Straße der Fischhändler. Zu beiden Seiten standen heruntergekommene Geschäftshäuser mit verdreckten roten Backsteinfassaden. Husathirn Mueri war noch nie vorher in diesem Tel der Stadt gewesen. Irgendwie ein Industrieviertel und mehr als nur ein bißchen anrüchig. „Dort hinten, ganz am Ende“, sagte der Wachhauptmann. „Im Kellergeschoß. Hinter der Tür gehst du nach links und die Treppen runter.“

„Und ich kann da so einfach reingehen? Ohne Gefahr?“ fragte Husathirn Mueri. „Werden die mich nicht erkennen und in Panik geraten?“

„Nein, Herr, das geht schon in Ordnung. Es ist nicht besonders hell da drunten. Man kann grad so Gestalten ausmachen, aber keine Gesichter erkennen. Keiner wird wissen, wer du bist.“ Der gertengeschmeidige junge Beng grinste und knuffte Husathirn Mueri mit erstaunlicher Vertraulichkeit in den Arm. „Geh nur einfach rein, Herr! Los! Geh schon! Ich sag dir doch, dir passiert schon nichts.“

Der lange schmale Raum, in dem es penetrant nach getrocknetem Fisch roch, war in der Tat sehr dunkel. Einzige Lichtquellen waren zwei schwache Glühbeerbündel an der gegenüberliegenden Wand. Dort standen an einem Tisch mit Früchten darauf und duftenden Zweigen, wahrscheinlich wohl der Altar, ein Junge und ein Mädchen.

Husathirn Mueri kniff die Augen zusammen, sah aber in der Finsternis sonst nichts. Dann gewöhnten sich seine Augen, und er sah auf nackten schwarzen Fässern in Reihen etwa fünfzig Personen eng beisammenhocken. Sie brabbelten und sangen und stampften auch ab und zu mit den Füßen auf, in einer Art Responsorien zu den Worten, die von den Kindern am Altar kamen. Da und dort ragte ein Benghelm über die Menge, doch die meisten waren barhäuptig. Die Stimmen, die Husathirn Mueri hörte, waren grob und tief, die Stimmen von ordinärem Volk, Proletarier, Arbeiter. Husathirn Mueri verspürte erneut eine gewisse Beunruhigung. Er hatte nie viel mit Proleten zu tun gehabt. Und jetzt sie einfach so in ihrem heiligen Versammlungsort zu bespitzeln.

„So setz dich doch!“ flüsterte Chevkija Aim und stieß ihn fast heftig auf eines der Fässer in der hintersten Reihe. „Setz dich hin und hör zu! Der Junge ist Tikharein Tourb. Er ist der Priester. Die Priesterin heißt Chhia Kreun.“

„Priester und Priesterin?“

„So hör doch zu, Herr!“

Er glotzte verblüfft. Er kam sich vor, als stünde er auf der Schwelle zu einer anderen Welt.

Der Priesterknabe gab fremdartige gurgelnde Laute von sich, scheußliche zirpende, klickende Geräusche, die fast wie das Geschnarre der Hjjks klangen. Und die Gläubigen vor Husathirn Mueri respondierten mit ebensolchen bizarren Lauten. Ihn schauderte, und er bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.

Dann auf einmal rief der Junge mit heller klarer Stimme laut: „Die Königin ist unsre Trösterin und unsre Lust. So lehrte uns der Prophet Kundalimon, gesegnet sei sein Name.“

„Die Königin ist unsre Trösterin und unsre Lust“, wiederholte die Gemeinde im Singsang.

„Sie ist das Licht und der Weg.“