Nach den ersten atemberaubenden Sekunden, in denen er vor Beklemmung zu keinem vernünftigen Gedanken fähig war, wandelte sich sein Erleben plötzlich, es war nicht mehr etwas Wesenloses, vielmehr überfiel ihn ganz scharf ein nüchternes Wissen: Du wirst aufgeschnitten, zerlegt, auf irgendeine nicht mechanische Weise abgebaut… und diese kalte Sicherheit war niederschmetternder als das Widerstreben gegen etwas Unbestimmtes. Er fühlte die Haut an den Händen pelzig werden, seine Zunge lag wie ein Gummiball in der Mundhöhle… Mit einemmal fiel ihm Katja ein, und er vergaß alles um sich herum in seinem Schrei:
»Katja, hörst du mich?«
»Ja, Al, ich höre dich.«
»Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Natürlich nicht, Al.«
»Jetzt ist nur noch eines wichtig: du, Katja!«
»Und du, Al!«
Der Boden glitt vor, die Wand riß auseinander, eine leere Kabine… die rechte Wand mit einem Kreismuster in Bienenwabenstruktur überzogen, jeder Kreis war ein Loch, und aus einem davon in der Mitte des Feldes wanderte ein Pfeil mit stumpfer Spitze auf Al zu. Er drückte sich an die Vorderwand… der Pfeil ging hinter ihm vorbei… hielt in horizontaler Lage an der linken Begrenzungsfläche des Raumes… entronnen! Noch nicht: Ein zweiter Pfeil kroch aus der Wand, in Kniehöhe, horizontal wie der erste… Al wich aus, der Pfeil ging vorbei. Sofort folgte ein dritter, brusthoch. Al duckte sich… schon war der enge Raum durch zwei Sprossen eingeengt, und nun war eine dritte da… Ein vierter Pfeil schob sich in die Kabine hinein, nicht langsam, nicht schnell, mit automatenhafter Gleichmäßigkeit. Er stach in den engen Raum hinein, wieder in Brusthöhe, genau auf Als eingeklemmten Körper zu. Er hatte Mühe, sich niederzuducken, die Stangen hinderten ihn… noch eine ging über seinen Kopf hinweg… und nun kam wieder ein Pfeil auf ihn zu. Al kauerte am Boden, eingeklemmt in einem räumlichen Gitter… er versuchte auszuweichen, riß und schüttelte an den Stäben… aber es nutzte nichts, diesmal gab es kein Entrinnen. Er warf sich herum, drehte dem anrückenden Spieß den Rücken zu… wartete… ein dumpfer Druck unterhalb des Schulterblatts… ein Losschnellen… ein Dorn, der sich in die Haut bohrte… ein greller Schmerz…
Wie auf ein Zeichen zogen sich alle Stangen zurück, nach ein paar Sekunden war der Raum leer… nur das Punktmuster an der rechten Seite erinnerte an die Tortur.
Der Boden bewegte sich… die Wand wich und schloß sich… eine Düse ragte von rechts in den Raum hinein… es begann zu zischen…
»Katja, antworte!«
»Ich antworte ja schon, Al.«
»Du darfst mich nicht warten lassen!«
»Nein, nein, Al.«
»Bist du glücklich?«
»Ja, sehr! Ich brauche nur an dich zu denken.«
Es war ein laufendes Band, das ihn beförderte. Auf jeder Station geschah ihm etwas anderes – ungewöhnliche, erschreckende Dinge, weniger schmerzhaft als peinigend durch den Zweifel über ihren Zweck.
Station…
Licht glomm auf, zuerst schwach, allmählich intensiver, bis es zu einer alles durchdringenden unerträglichen Grelle wurde. Al preßte die Fäuste vor die Augen, und noch immer badete er in dieser feurigen Flut…
Station…
Langsam wurde es wärmer, dann rascher, die Luft kochte, die Haut brannte, das Herz schlug, die Lunge rang nach Atem… Al wand sich, keuchte, trommelte gegen die Wände.
Station…
Erst summte ein Ton, leise, kaum hörbar, wurde voller, füllte den Raum, laut, gewaltig, dröhnte, donnerte, toste… Al hatte die Schultern hochgezogen und kniete auf dem Boden, die Hände am schmerzenden Schädel…
»Katja, ich könnte es nicht ertragen, wenn du nicht…«
»Bleib ruhig, Al. Bitte! Mir zuliebe.«
»Ich bin ja ruhig, Kat. Wo bist du jetzt?«
»Ich achte nicht mehr darauf. Warum auch?«
Warum auch.
Ein Objektiv blickte von oben in die Kabine – das Objektiv, das Auge der Maschine. Die Wand rechts fiel zurück, ein Abgrund riß auf… ein achtfüßiges Kriechtier zappelte am Boden… ein Schwingenflugzeug surrte auf ihn zu… Zähne bissen… Fratzen grinsten…
Warum darauf achten? Warum?
Al griff in ein Gesicht hinein, und er faßte durch dieses Gesicht hindurch…
Das Förderband lief wieder… stand… eine neue Kabine… leer – bis auf einen roten Knopf…
Über Als Haut lief ein Prickeln, wurde stärker, wurde schwächer, wieder stärker, viel stärker… verzweifelt blickte er sich um… eine Möglichkeit zum Entrinnen?… ein rettender Strohhalm?… Al fand den roten Knopf… er drückte nieder… schlagartig hörte der elektrische Schüttelfrost auf…
Der Boden trug ihn fort… das Prickeln lief wieder über ihn… Al suchte nach dem Knopf… fand ihn… aber er steckte nicht fest in einer Halterung, sondern war verschiebbar angebracht – in einem Gewirr von Linien, die in Form eines Labyrinths in die Wand eingeschnitten waren. Das Ende eines nach unten auslaufenden Einschnitts war rot eingekreist. Die Vibration wurde intensiver, ebbte ab, flutete weiter auf… Schon war Al dabei, den roten Knopf zu verschieben – nur zweimal verirrte er sich in einer Sackgasse und mußte umkehren… dann hatte er den Weg durch den Irrgarten gefunden, konnte den Knopf an der bezeichneten Stelle hinunterdrücken… die elektrischen Schläge ließen sofort nach…
Das Band brachte ihn weiter…
Andere Aufgaben… zitternde Glieder im Elektroschock… gespanntes Nachdenken, höchste Konzentration. Al nahm es als Herausforderung, als Bewährungsprobe. Er bemühte sich, und er war stolz, wenn es ihm gelang…
»Laß doch diese Dinge, Al!«
»Al, was hat es denn für einen Sinn!«
»Hast du mich so schnell vergessen?«
»Gib es auf, Al! Wenn du mich liebst, gibst du es auf!«
Al steckte Bauklötzchen zu einem Würfel zusammen, suchte ineinanderpassende Teile aus einer Menge Metallplatten heraus, reagierte auf das Aufglühen von Leuchtscheibchen, löste einfache und schwerere Rechenaufgaben…
Das Laufband bewegte sich, die Wand schob sich auf… helles Sonnenlicht blendete ihn… er wankte ins Freie…
Da saßen Don, René, Katja, sie sahen ein wenig erschöpft aus, schienen aber sonst wohlbehalten.
»Na, überstanden?« fragte Don.
»Das hat aber lange gedauert!« sagte René.
Al blickte auf Katja.
Sie saß mit angezogenen Knien an der Wand und sah unverwandt an ihm vorbei. Ihre Lippen waren verächtlich gekräuselt. Sie pfiff vor sich hin. Al brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln.
»Wo sind wir?« fragte er dann.
René gab Auskunft.
»Am hinteren Ende des Hauses.«
»In welchem Teil des Geländes?«
Niemand wußte es.
Al trat an eine Gestrebekonstruktion, die wie ein Bohrturm aussah, und kletterte hinauf. Die körperliche Anstrengung vertrieb die Mattigkeit und die Reste des überstandenen Schreckens wie ein erfrischendes Bad. Rasch klomm er höher, über das Niveau der Dächer hinaus.
Eine warme Luftströmung trieb an ihm vorüber und kühlte ihn wohltuend ab. Seine Kameraden waren zu kleinen, unscheinbaren Pünktchen geworden. Er musterte seine Umgebung. Das Schwebeboot hatte sie in den nördlichen Teil des Stadtkerns gebracht. Zwischen den höheren Bauwerken gab es genug Lücken, durch die er die Stadtmauer erkennen konnte, die sich wie ein Schlüsselrand um die eingeschlossene Horizontalfläche bog. Die Gebäude mit ihren Metall- und Glasdächern lagen im Becken eingeschachtelt wie Zusammensetzteile in einem säuberlich aufgeräumten Elektrobaukasten. Die ebene Lage war nur an einer Stelle gestört – Al nahm an, es wäre dieselbe, an der im Bild der alten Stadt der Hügel mit der Ruine gelegen hatte: Hier ragten die Gebäude höher auf. Al konnte nicht erkennen, ob sie auf einem Hügel standen oder nur höher als die anderen gebaut waren.