»Das wollen wir doch ausprobieren!« sagte Al, und ehe ihn jemand hindern konnte, warf er einen der Kiesel, die noch in seiner Tasche steckten, zu den Rinnen hinunter. Es hätte ihn auch niemand gehindert, denn Don hielt sowieso nicht viel von übertriebener Vorsicht, René wäre noch ganz andere Risiken eingegangen, um die Maschinerie in Gang zu setzen, und Katja hatte gar nicht zugehört.
Der Stein schlug blechern klirrend unten auf, sprang noch einmal hoch, fiel endgültig in eine Rinne, kollerte hinunter, rutschte in die Öffnung am unteren Ende der Bahn…
Auf einmal lag ein Ton in der Luft, ein hohes, helles Singen, stetig und gleichbleibend in Tonhöhe und Lautstärke… Die vier Kameraden standen still und staunten… Zwölf große gleißende Bälle stiegen wie Seifenblasen aus zwölf Trichtern, Kugeln aus dem seidigen Gespinst von elektrischen Entladungen, auf und ab wogend wie Fontänen im Wind. Kolben stampften; Flügelräder liefen an, dort, wo der Stein verschwunden war; etwas mahlte dumpf. Wie eine Woge lief es durch die Maschinenteile – Räder drehten sich, Gelenke knickten, Wellen rotierten, Relais klickten, Funken knisterten.
Katja war aus ihrer Träumerei erwacht und schrie plötzlich:
»Da ist er! Da!«
Der Stein war wieder zum Vorschein gekommen, er hüpfte über einen Schüttelweg, dann griff ein glockenartiges feinmaschiges Drahtgeflecht wie eine Hand über ihn, hob ihn empor und kippte ihn über einer Grube aus, in die sie von ihrem Standpunkt aus nicht sehen konnten. Sie stürmten über den Weg und hielten jäh: Von unten schlug ihnen trockene, atemstockende Luft entgegen. Kurz anhaltende, gedämpfte Zischlaute wurden hörbar, das milde Blau von Cerenkovstrahlung glomm irgendwo in unbestimmter Tiefe. Dann war es plötzlich still.
»Atomzerfall«, flüsterte René. »Donnerwetter! Atomarer Abbau!«
4
Schweigend setzten sie sich wieder in Marsch, einige Male teilte sich ihr Pfad. Sie schlugen stets die Richtung ein, die sie am schnellsten an die andere Seite bringen mochte.
Unversehens hob Don, der voranging, die Hand.
»Halt! Still!«
Er drängte die anderen zurück.
»Zu dumm. Wir hätten damit rechnen müssen: Jak mit seinen Anhängern. Wir dürfen uns nicht sehen lassen.«
Sie zogen sich hinter einen pyramidenartigen Aufbau zurück.
»Sie haben den Lärm gehört«, stellte Al fest. Don spähte um die Ecke. »Dort stehen sie, Jak und Heiko. Und da ist auch Tonio!«
»Kommen sie näher?« fragte Kat.
»Sie beraten«, flüsterte Don. Er drehte sich um. »Das ist eine gute Gelegenheit – wir dürfen uns nicht sehen lassen. Wir beobachten sie – und folgen ihnen dann.«
Wieder spähte Don hinter der Wand hervor. »Vorsichtig, sie kommen. Wir müssen uns verstecken!«
René wies hinauf.
»Am besten dort oben.«
Die Stufen, die in die Höhe führten, waren offenbar nicht zum Erklimmen bestimmt, aber mit gegenseitiger Hilfe waren sie zu überwinden. Sie gelangten auf eine horizontale, von viereckigen Löchern durchstoßene Fläche von etwa vier mal vier Metern, die entfernt an ein Kanalgitter erinnerte. Hier waren sie vor Blicken von unten geschützt.
»Niederlegen«, befahl Don leise.
Sie ließen sich auf der harten Unterlage nieder.
»Oh, wie unbequem«, stöhnte Katja.
René versuchte, in eines der Löcher hineinzuschauen, aber im Innern war es dunkel.
»Hoffentlich keine Gasableitung«, murmelte er.
»Das Ding ist doch sowieso nicht mehr in Betrieb!« zischte Don.
Unten hallten Schritte. Die zweite Gruppe mußte direkt unter ihnen sein. Jetzt klangen auch Stimmen auf.
»… bestimmt von hier. Hab’s ganz genau gehört!«
»Aber was soll es denn gewesen sein?«
»Vielleicht treibt sich hier Don herum.«
»Siehst du eine Spur von…«
Die Stimmen verklangen. Nur noch ein paar Wortfetzen waren zu verstehen.
»… alles genau durchsuchen…«
Wieder lugte Don hinunter. Warnend schwenkte er die Hand.
»Wir können nichts anderes tun als vorerst hierbleiben!«
»Sollen wir nicht…«, Al stockte, kaum daß er zu sprechen begonnen hatte.
»Was?« fragte Don uninteressiert.
»Uns mit den anderen verständigen?«
»Was sagst du da?«
»Du hast schon richtig gehört: uns mit den anderen verständigen!«
»Hast du deinen Verstand verloren? Bist du wahnsinnig?« Don war außer sich.
Katja hatte das Kinn auf die Hände gestützt und hörte ihm halb belustigt, halb gelangweilt zu. Al ließ ihn zunächst aussprechen. Don redete noch eine Weile weiter.
»Wenn wir zusammen vorgehen«, versuchte Al zu erklären, »können wir mehr erreichen…«
»Was sollen wir erreichen? Wie sollen wir die ersten werden? Zusammen vorgehen! Ausgemachter Unsinn!«
»Don, begreifst du denn nicht? Es geht hier um viel mehr, als erster zu sein. Hier liegt ein Rätsel, das wir lösen können. Hier können wir Probleme klären, die die ganze Menschheit betreffen. Hier haben wir…«
»Sei still, Al, bitte!« sagte Don sehr entschieden. Al forschte in den Mienen der beiden anderen. René roch bedenklich an den Öffnungen im Boden. Katja drehte sich betont lässig auf den Rücken, bettete den Nacken in den verschränkten Händen und blinzelte dem Licht, das von oben kam, entgegen. Es war nicht mehr die tiefe Bläue des Tages, es waren schon die Tinten des späten Nachmittags, die dort oben Flecken und Regenbogenränder malten.
»Es ist schon spät«, sagte sie.
»Spät?« wiederholte Al. »Vielleicht ist es das – zu spät.«
»Jetzt aber endgültig Schluß«, mahnte Don. »Machst du weiter mit – oder nicht? Dann brauchst du gar nicht hierzubleiben. Nun?«
»Schon gut«, sagte Al. Er zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Na also«, sagte Don befriedigt. Er schob sich wieder zum Rand vor und sah hinunter. »Sie sind drüben. Sie besprechen sich.«
»Mir ist es hier zu hart. Ich will hinunter«, sagte Katja und richtete sich auf. Don schnellte zu ihr hin und riß sie nieder.
»Verflucht! Kusch dich! Oder es knallt!«
Katja schlug hart auf. Sie ächzte unterdrückt.
»Al, hilf mir doch!«
»Laß sie los, Don«, sagte Al drohend.
Don sah ihm wütend in die Augen. Al war nicht weniger wütend.
»Laß sie los!« forderte er noch einmal.
»Was geht es dich an?« stieß Don heraus.
»So tu doch was, Al!« flehte Katja. Sie wand sich unter den hart zupackenden Händen Dons. »Laß doch das alles, Al! Gib es auf! Wir können…«
Don legte seine Hand auf ihren Mund. Im Liegen ergriff Al seinen Arm und riß ihn herum. Don ließ Kat los und schlug auf Al ein, einmal, zweimal, ohne sich aufzurichten… Al fing die Faust ab und drehte sie um… plötzlich flogen sie auseinander. René hatte sich zwischen sie geworfen.
»Schluß. Seid still. So seid doch still!« Er lauschte angestrengt… Sie hörten Schritte… und Stimmen .
»… hier irgendwo…«
»… nicht getäuscht haben…«
Die Schritte polterten davon. Die Stimmen wurden unverständlich.
»Mit eurer verfluchten Streiterei«, schalt René. »Ihr verpatzt noch alles! Wofür bemühen wir uns?«
Don und Al hatten sich etwas beruhigt, nur ab und zu warfen sie sich böse Blicke zu. Eine Weile warteten sie und lauschten. Mehrmals wurden die Schritte lauter und dann wieder leiser.
Der Abend kam und dann die Nacht. Sie senkte sich rasch, wie immer bei strahlendem Wetter. Die Reflexe erstarben. Die Maschinen verloren ihren Glanz, ihre Kanten wurden weich, ihre Ecken stumpf.
»Wir klettern hinunter!« ordnete Don an. »Wir müssen uns an ihre Fersen hängen, sonst entwischen sie uns!«