»Und was hast du…«
René unterbrach sich, aber es wußten sowieso alle, was er fragen wollte und was Don unter lärmender Leutseligkeit zu tarnen suchte: Was hatte er bis jetzt getan? Es war eine arge Regelwidrigkeit, sich während einer Gemeinschaftstour zu verdrücken, noch dazu für eine ganze Nacht. Nicht umsonst war Don jetzt so gut erholt und wohlgelaunt. Aber sie erinnerten sich, daß sie sich auch schon manches Mal nicht ganz vorschriftsmäßig benommen hatten. Und es gab eine Entschuldigung: Dieses Erlebnis war zweifellos etwas aus dem Rahmen Fallendes. Die Entsetzensschreie Dons gellten ihnen noch im Ohr – und sie schwiegen.
»Ihr sagt ja nichts«, rief Don vorwurfsvoll. »Ist das nicht unglaublich! Wie erklärt ihr es euch?«
»Einiges ist gar nicht so geheimnisvoll«, sagte René. »Es scheint sich um eine Anlage zur Atomzertrümmerung zu handeln, um eine Art Materiewandler. Ganz einfach gesagt, funktioniert er nach folgendem Schema: Vorn steckt man Stoff hinein, und hinten kommt er wieder heraus – aber in der Form, die man sich gewünscht hat.«
»Sehr praktisch«, sagte Don.
»Die eigentliche Umwandlung geht erst im Atommeiler vor sich – das ist der Teil der Maschine mit der blauleuchtenden Öffnung. Das rührt von Cerenkovstrahlung her. Sie entsteht dann, wenn Elektronen oder andere geladene Teilchen sehr schnell durch Substanzen schießen – wie sie beispielsweise beim Kernzerfall entstehen können. Alles, was vorher passiert, dient nur zum Analysieren und Sortieren des Materials…«
»Sagte ich es nicht?« warf Don ein.
»Die Ergebnisse der Analyse werden dann verwendet, um die Einwirkungen – Alphateilchen, langsame Neutronen, Gammastrahlen und so weiter – richtig zu dosieren. Im Meiler laufen zuletzt jene Kernreaktionen ab, die zum richtigen Ergebnis führen.«
»Warum bin ich nicht längst zu Gold verwandelt?« fragte Don.
»Wahrscheinlich ist eine Sicherung eingebaut«, vermutete René.
»So dürfte es sein«, bestätigte Al. »Solche Supermaschinen sind ja auch bei uns auf der Erde so konstruiert, daß sie niemanden verletzen können.«
»Prächtig«, sagte Don, »dann brauchen wir uns ja vor ihnen nicht besonders in acht zu nehmen und können uns auf Jak konzentrieren. Ich habe etwas Besonderes vor. Paßt auf!«
Mit kurzen hastigen Worten setzte er den Kameraden seinen Plan auseinander.
Wenig später wanderten sie die Stadtmauer entlang, denselben Weg wie vor wenigen Tagen. Es war ein eigenartiges, zwiespältiges Gefühl, linker Hand die Burgbauten liegen zu sehen, farbig, plastisch, wie zum Greifen nahe, und zugleich zu wissen, daß alles nur Trug war. Aber selbst davon abgesehen – dieses unmittelbare Aufeinanderprallen des Mittelalters mit den Produkten einer utopisch anmutenden technoiden Zivilisation blieb eigenartig genug und verstärkte den Eindruck des Unwirklichen.
Unangefochten erreichten sie den Platz, von dem das Tor zur Zugbrücke führte, sie gingen unter seinem weiten Bogen hindurch und wandten sich zur Tür, die rechts von hinten in den Bau hineinleitete. René, der schon hiergewesen war, führte. Über eine Treppe kamen sie hinauf, an mehreren Türen vorbei. Eilends stiegen sie über die abgetretenen, aufgefächerten, im Kreis laufenden Stufen. Wieder sahen sie eine alte schnitzereiverzierte Tür. Sie stand offen, und René blieb stehen. Sie waren am Ziel. Der Raum war ein Waffensaal, in der Mitte standen Rüstungen, an den Wänden hingen Folterwerkzeuge und Waffen mannigfaltiger Art, bekannte und unbekannte.
Al kehrte zur Treppe zurück und stieg noch eine Etage höher. Durch eine Luke, durch die ihm ganze Strähnen von Staub und Sand entgegenrieselten, zwängte er sich auf das waagerechte Dach. Es war an beiden Seiten von einer brusthohen Wehr gesäumt, auf die in regelmäßigen Abständen Aufsätze in Form quaderförmiger Blöcke gebaut waren – offenbar zum Schutz gegen von der Seite einfallende Geschosse. Einige Kartätschen standen auf Rädern an der Balustrade. Den vielfachen frischen Streifenspuren im Staub war zu entnehmen, daß sie erst vor kurzem dort hingeschoben worden waren – Jak hatte sie benutzt, um Schüsse abzufeuern. Von hier oben war das Zielen ein Vergnügen. Nach allen Richtungen konnte man weit ins Land hineinschauen, über das rostrot und jadegrün gemusterte Meer der Dächer und Regenrinnen, über die mehrfach geknickte Linie der Stadtmauer, über den Wassergraben, über die Brücke – die Brücke, die ohne Unterbrechung übers Wasser lief und drüben von einem hohen Rundbogen überspannt war.
Al ging wieder hinunter in den Waffensaal. Einige weiße Schatten an der Wand verrieten, daß hier lange Zeit Waffen gehangen hatten – Jak und seine Leute hatten sie heruntergenommen, und auch Don wog schon einen Säbel in den Händen.
»Sucht euch etwas Passendes aus!« rief er.
»Gebt acht, daß ihr nichts Kaputtes erwischt«, warnte René.
Don kramte in einigen Schubläden nach Munition. Triumphierend holte er eine Schachtel mit Kugeln und ein Säckchen mit Pulver hervor.
»René, kannst du mir sagen, wie das funktioniert?«
René sah die Sachen aufmerksam an.
»Es scheinen Waffen verschiedener Jahrhunderte zu sein«, sagte er. »Ich glaube, das ist das Modernste.« Er wies auf ein Gerät, das an eine Pistole erinnerte, doch erheblich größer war. »Hier ist die Munition dafür.« Seine Kameraden umringten ihn und ließen sich keinen seiner Handgriffe entgehen. Er steckte eine daumengroße zylindrische Hülse in eine Öffnung, die er daraufhin durch eine Klappe verschloß. Dann trat er ans Fenster.
»Achtung! Ich probiere es einmal aus!«
Die Waffe besaß dort, wo an gebräuchlichen Pistolen der Abzug sitzt, einen Kolben. René steckte sie zum Fenster hinaus und zog den Zeigefinger an…
Es krachte heftig, und gleich noch einmal. René stand in eine Rauchwolke gehüllt, doch bevor der Rauch die Sicht verschleiert hatte, hatten sie es alle beobachtet: Unten im Hof war ein kreisrundes Loch entstanden, einige Kopfsteine waren nach allen Seiten geflogen, eine weiße Wolke Rauch wehte fort.
»Sprengmunition«, sagte René anerkennend.
»Fein«, sagte Don. »Nehmt jeder so ein Ding. Und genügend Munition. Vielleicht können wir noch etwas von den andern Sachen brauchen.«
Sie blieben noch einige Zeit bei ihren Versuchen. Schließlich hatte sich jeder mit dem ausgestattet, was ihm am besten gefiel. Don hatten es die handlichen Schußwaffen mit der Explosivmunition angetan, die sie kurz Pistolen nannten. Er trug einen Gürtel mit einer Pistole und ein morgensternähnliches Schlaginstrument. Al hatte eine, René zwei von den Pistolen eingesteckt. Katja waren diese Waffen zu schwer – schließlich befestigte sie einen zierlichen, goldbeschlagenen Dolch an einer Schlinge ihrer Jacke.
»Jetzt sind wir bereit«, rief Don. »Jetzt zahlen wir Jak zurück, was er uns vorgeschossen hat!«
6
Sie hatten keine Leiter mitgenommen und mußten daher zur Plattform zurückkehren. Das war ein kleiner Nachteil, dem aber Vorteile gegenüberstanden: Von dort aus kannten sie den Weg schon, und außerdem hielten sie auf diese Art die Möglichkeit frei, sich von innen jederzeit direkt zum provisorischen Lager zurückzuziehen. Munter kletterten sie die Leiter hinab, jetzt schon geübt und ohne sich um die seltsamen optischen Gaukelspiele zu kehren.
Mit ihren altertümlichen Waffen boten sie ein seltsames Bild zwischen den ultramodernen Bauten und Maschinen. Eigentlich ist es verrückt, dachte Al; sind wir schon so träge geworden, daß wir nichts mehr ernst nehmen können? Daß es nichts mehr für uns gibt als Vergnügen und Unterhaltung? Daß wir auf alles, was ein Stück weiterführen könnte, freiwillig verzichten, weil es uns ein wenig an Vergnügen und Unterhaltung kosten würde?