Don hatte Al noch nie so aufgeregt gesehen. Er war ein wenig verwirrt, er hörte ihn wettern, aber er begriff ihn nicht.
»Aber Jak«, stammelte er. »Jak und Heiko…«
»… versagen genauso wie wir! Sie schrauben in den Schaltungen der Zentrale herum – was für ein Blödsinn! Sie werden uns noch die letzten Chancen verderben.«
Er schwieg jäh. In seinem Eifer hatte er nicht auf die Umgebung geachtet, aber nun sah er etwas, im Gesicht Dons… darin spiegelte sich Verwunderung, Bestürzung, Entsetzen. Dons Augen hingen an einem fernen Punkt, an irgend etwas, das Al im Moment nicht sah, von dem er aber, auch ohne es zu sehen, sofort wußte, daß es etwas Atemberaubendes war. Er drehte sich um, zur Mauer hin.
Es gab keine Mauer. Es gab weder den Ring aus alten Gebäuden noch den Gürtel der elfenbeinfarbenen Villen, es gab keine Wiesen, keine Felsen, Hügel oder Seen, es gab keinen Wall von Bergen, keinen Horizont. Nur noch das Zentrum, das Maschinengelände, war da. Sie standen auf einer Scheibe, und diese Scheibe hörte vor ihnen auf. Der Himmel reichte unter die Horizontlinie, die verschwunden war, blau, strahlend, ohne das kleinste Wölkchen, ohne den schmalsten Dunststreifen.
Nach einer Sekunde der Erstarrung prallten sie zurück.
»Es kann nur eine optische Täuschung sein«, schrie Al, aber er warf sich mit den andern nach rückwärts – so stark war der Eindruck des vom Himmel erfüllten ungeheuren Abgrunds.
»Wir haben so etwas doch schon einmal erlebt«, ächzte Don, »denkt an die Brücke!«
»So geht doch vor«, rief René, »probiert es doch aus – ob rundherum alles verschwunden ist oder ob es in Wirklichkeit weitergeht!«
Sie brüllten sich gegenseitig an, sie versuchten dadurch den Schrecken in sich abzutöten, aber es glückte nicht. Don trat einen Schritt vor, auf das blaue Nichts zu, aber da erfaßte ihn ein so heftiges würgendes Schwindelgefühl, daß es ihn zusammenkrampfte und er sich mit dem Gesicht voran, die Arme wie ein Gekreuzigter erhoben, an die kühle, wohltuend massive Wand eines Gebäudes lehnte.
»Herrgott«, sagte Al, »wir dürfen uns doch von einigen gelenkten Lichtschwingungen nicht so fertigmachen lassen!«
»Vielleicht ist es wahr«, schluchzte Katja. Sie lief auf Al zu und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, in der weichen Mulde zwischen Schlüsselbein und Hals.
»Wir müssen es probieren«, rief René. »Gebt mir einen harten Gegenstand!« Da sich keiner rührte, riß er Katja den Dolch aus der Schlinge ihrer Jacke. »Al, halte mich bitte an den Füßen. Ich krieche vor. So helft mir doch schon!«
Al schob Katja beiseite und trat zu René, Don drehte sich langsam, wie schlaftrunken um.
René ging bis auf zehn Meter zum Abbruch und legte sich auf den Bauch. Al ließ sich hinter ihm nieder und hielt die Beine des Gefährten oberhalb der Knöchel fest. So krochen sie vorwärts, Dezimeter um Dezimeter, René streckte eine Hand aus und klopfte mit dem Griff des Dolches den Boden ab. Im Schneckentempo näherten sie sich der Stufe… immer wieder schlug der Knauf des Dolches mit harten Schlägen auf die steinharte Masse des Grundes…
Als Katja plötzlich aufschrie, hielten sie inne und sahen sich um. Und dann hörten sie das sirenenartige Heulen und sahen die dicken, dräuenden schwarzen Rauchsäulen, die aus dem Innern des Geländes herauswuchsen, hoch hinauf, bis sie wie abgeschnitten endeten. Etwas Feuriges, ein großer glühender Tropfen, erhob sich nun irgendwo hinter den Dächern, bewegte sich immer schneller und verschwand schließlich oben in den Lüften. Ein neue Rauchsäule war dazugekommen. Es sah aus, als hinge die Scheibe, die die Fabriken trug, an diesen Schnüren frei unter dem Himmel.
»Weiter«, preßte René zwischen den Zähnen hindurch und robbte wieder vor. Al hielt sich dicht hinter ihm.
Wieder stockte René.
»Siehst du es?« fragte er.
Al hob den Kopf und spähte über den Körper des Freundes.
»Der Rand bewegt sich«, sagte er.
Die Begrenzung lag nicht still, sondern oszillierte. Zwanzig Zentimeter wuchsen hinzu, zwanzig Zentimeter bröckelten ab, in einer stetigen Wellenbewegung.
»Das ist die Bestätigung dafür, daß es nur ein Lichtspiel ist«, rief Al.
René schob sich weiter.
»Los!« rief er und zerrte mit den Beinen ungeduldig an Als klammernden Händen.
In die Pulsationen des Randes kam jetzt Unruhe, sie liefen weiter vor und weiter zurück, und auf einmal stieß der Rand auf sie zu, glitt unter ihnen hinweg…
Die Scheibe lag hinter ihnen. Sie war papierdünn. Vor ihnen, neben ihnen und unter ihnen war der Himmel. Sie schwebten in diesem Himmel, nein, sie schwebten nicht – sie lagen. Sie lagen auf festem Grund, auf den noch immer die mechanisch weitergeführten Schläge Renés dröhnten. Al hatte René losgelassen. Auch seine Hände berührten, betasteten, befühlten diesen Boden, den man nicht sehen konnte. Und wenn es zehnmal ein optischer Trick war – der Widerspruch zwischen dem Eindruck des Gesichtssinnes und dem Empfinden des Tastsinnes war entsetzlich. Sie mußten die Augen schließen, um nicht wahnsinnig zu werden.
Hinter sich hörten sie Don und Katja ihre Namen rufen.
Ohne die Augen zu öffnen, krochen sie auf diese Rufe zu, immer rascher, immer eiliger, sie hasteten, sie schnellten vor… Sie hätten gehen können, aber dann hätten sie den engen Kontakt mit dem einzigen verloren, das ihren Verstand noch beisammenhielt – mit dem festen Boden.
Auf einmal klangen die Schreie anders, Hände griffen zu, sie wurden gerüttelt und wagten noch nicht, die Augen zu öffnen.
»Es ist vorbei, hörst du: Es ist vorbei!«
Al spürte ein weiches, feuchtes Gesicht an dem seinen, und nun erst hob er die Lider – bereit, sie sofort wieder zu schließen. Katja kniete vor ihm und küßte ihn. Sie weinte. Der Abgrund war verschwunden. Die Mauer stand wieder da, die verhutzelten Gebäude, die gedunkelten und patinierten Dächer und Dächlein, die Giebel, Zinnen und Bögen.
Nichts erinnerte an den Spuk.
Doch – etwas war noch da: der schwarze Rauch über dem Maschinengelände. Aber es waren keine Säulen mehr, sondern vielfach zerrissene, verkrümmte, zerflatternde Gebilde, die langsam südwärts krochen.
9
Katja kniete noch vor Al am Boden, René versuchte aufzustehen. Er zitterte vor Aufregung, das Taschentuch entfiel seinen Händen, als er sich den Schweiß von der Stirn wischen wollte. Auch in Katja saß der Schreck – durch ihr Gesicht liefen Linien, die vorher nicht dagewesen waren.
Don sprang auf sie zu und riß sie beiseite.
»Jetzt ist es aber genug mit eurer Schmuserei!« Er gab Katja einen kräftigen Stoß, pflanzte sich vor Al auf und hob die zur Faust geballte Rechte.
»Ich werde dich lehren, mit deinen schmutzigen Fingern an Kat herumzugrapschen.«
Er holte aus und wollte die Faust auf den vor ihm auf dem Boden hockenden Al niedersausen lassen, doch René sprang hinzu und umschloß von hinten fest Dons Handgelenk. Erbost drehte dieser sich um. Er war aufgeregt, aber sein Gesicht trug keine Spuren eines besonderen Erlebnisses, besonders aber sein Verhalten gab zu denken. Es paßte nicht zu dem, was sie eben durchgemacht hatten.