René, der Don voll ins Gesicht sah, fand plötzlich die Erklärung.
»Du hast deine Erlebnisintensität herabgesetzt! Oh, du Schuft.« René konnte vor Empörung nicht weitersprechen und mußte zuerst einmal tief atmen, um sich zu fassen. »Pfui Teufel, schäm dich, du Feigling! Du hast es getan, gib es nur zu! Man tut einfach nicht mehr mit – wie? Man sieht gemütlich zu!«
Don vergaß alles andere vor dieser Anschuldigung. Er wurde bleich und versuchte sich zu rechtfertigen, aber sein Gestammel war nicht überzeugend; an den Blicken der anderen merkte er das deutlich. Der sonst fast stille René stand noch halb unter der Schockwirkung seines Abenteuers, und jetzt tobte er sich aus, schüttelte alles Erduldete und in sich Vergrabene aus sich heraus und ließ es an Don aus, der von diesem unerwarteten Ansturm derart überrannt wurde, daß er vergeblich nach seiner sonst so wirksamen Überzeugungskraft rang. Er gab es nicht zu, aber für die andern stand es fest: Er hatte in einer schwierigen Situation versagt.
Die kleine Gruppe sollte aber erst gar nicht zur Ruhe kommen; denn wieder rührte sich etwas zwischen den Maschinen. Eines der Schwebeboote tauchte auf, verschwand hinter einem Gebäude, kam wieder hervor. Es hing ein wenig schief in der Luft, es klirrte, als ob ein Regen von Scherben niederginge – und genau das war es auch: Das Heck schlitzte ein Glasdach von einer Seite einer Halle bis zur anderen auf. Ein Krach… zwei Masten waren geknickt und sanken fast zeitlupenhaft zur Seite. Wie Peitschenhiebe schlugen sie dann quer über die Dächer und ließen tiefe ausgezackte Narben zurück. Nur zweihundert Meter von ihnen jagte das Schwebeflugzeug auf die Ummauerung und zerschellte mit einer weißgrauen Fontäne aus auseinanderstiebenden Trümmern. Gleich darauf schlug die Schallwelle des Aufschlags mit schmerzhafter Wucht auf ihre Trommelfelle.
»Die ganze Innenstadt ist aus den Fugen«, sagte René. »Was, um alles in der Welt, mag geschehen sein?«
Bisher hatte keiner von ihnen Zeit gehabt, sich um die Ursachen des Aufruhrs zu kümmern. Als aber jetzt die Frage gestellt war, verband sich in Als Gehirn sofort die Erinnerung an ihre drei in den Schaltungen herumschraubenden Gegenspieler mit den gegenwärtigen Ereignissen.
»Kommt mit!« rief er. »Vielleicht können wir noch etwas retten. Es kann sich nur um Defekte in der Zentrale handeln.«
Alle folgten Als Aufforderung – René, weil ihm nun das Schicksal der Stadt viel mehr am Herzen lag als vorher; Don, weil er auf eine Gelegenheit hoffte, seine Führerrolle wieder zu erobern; Katja, weil sie nicht allein zurückbleiben wollte.
Die Stadt bot ein ganz anderes Bild als während der Tage zuvor. René hatte sich gewünscht, die Maschinen in Betrieb zu sehen. Nun ging dieser Wunsch in Erfüllung – mit einer Totalität, die sogar für seine technisch ausgerichteten Bedürfnisse zu total war. Von überall her sauste, summte, heulte und krachte es, Dampf zischte aus Düsen, Flüssigkeiten sprudelten in Behälter, aufsteigende heiße Gase flirrten im Sonnenschein, es roch nach Schwefeldioxyd und Ozon. Räder kreisten, Zentrifugen rotierten, Bänder liefen, Ketten rasselten, Kräne schwenkten, Torflügel schlugen auseinander und fielen wieder zusammen, Wägelchen rollten über Schienen, blieben stehen, Sand rieselte hinein, sie fuhren an, hielten, kippten aus, rollten weiter, im Kreis herum, zu einer neuen Rundfahrt bereit – auf mehreren übereinanderlaufenden Gleisen. Greifzangen packten ruckartig zu, reichten weiter, legten auf Tische, spannten ein, versetzten in rasende Drehung, Bohrer stachen zu, Bandsägen schnitten, Späne wanden sich zu Spiralen, Stanzen fielen dumpf auf darunter hinweglaufende Blechbänder, Hämmer klopften, wieder griffen Zangenkrallen, reichten weiter, schoben zurecht, erfaßten, rückten weiter, schoben…
Nur der kleinste Teil des Geschehens hatte Ähnlichkeit mit bekannten Vorgängen chemischer Fabriken, technischer Fertigungsstätten, elektrizitätsliefernder Kraftwerke, und selbst dieser Teil erfüllte offenbar keine sinnvolle Aufgabe. Da wurden Platten zuerst in komplizierten Arbeitsgängen gestanzt, gebogen, zusammengeschweißt, abgefeilt, gespritzt und auf den folgenden Stationen zerlegt, zerschnitten, geglüht und bis auf Grieskorngröße zerkleinert. Da wurde Pulver gemischt, gesintert, aufgelöst, ausgefällt, filtriert, verflüssigt, elektrolysiert, destilliert, getrennt und in Pakete verpackt. Rollwägelchen brachten die Pakete zum Ausgangspunkt zurück, Drahtbürsten kratzten die Hüllen ab, Gebläse rissen die Fetzen in dunkle Schlünde, die freigelegten Ziegel wurden in Mörsern zu Pulver zerstampft und erneut in den chemischen Prozeß geworfen. Es war aber ein Zufall und nur den gläsernen Wänden zu verdanken, wenn alle Fertigungsstufen beobachtbar waren; René war der einzige, der die Abläufe kritisch verfolgte. Meist vollzog sich das Wichtigste im verborgenen, im Inneren von vibrierenden und dröhnenden Apparaturen, deren Sinn nicht zu ahnen war. Selbst von den sich offen abspielenden Vorgängen blieb viel unverständlich: Platten klappten ruckweise um, elastische Drähte bildeten eigenartige Figuren, Kugeln blähten sich auf, Gleitentladungen wuchsen auf Wänden zu Flechtenbüscheln empor, Fäden tanzten wie auf einem Webstuhl, Netzstreifen liefen über Rollen.
Mehrmals stießen die vier Menschen auf Hindernisse. Als sie um eine Ecke bogen, sahen sie ein Gewimmel von dreirädrigen, mit Greifzangen und Spritzdüsen versehenen Karren und Spielzeughubschraubern ähnlichen Flugapparaturen, insektenhaft eifrig damit beschäftigt, eine riesige Wand zu errichten. Sie war schon ungefähr fünfzehn Meter hoch und lief quer über die Straße. Das genügte den Arbeitsrobotern aber nicht – sie rissen rechts und links die Gebäude ein, um Platz für ihre Mauer zu gewinnen.
In einer anderen Straße schien eine chemische Fabrik vom Wahnsinn ergriffen zu sein. Aus fünf großen Öffnungen quoll eine grüngelbe zähe Masse und ließ nur noch einen schmalen Durchgang an der gegenüberliegenden Straßenfront frei. Hastig liefen sie durch die schmale Passage, die sich zusehends schloß.
»Schaut euch das an!« rief René.
Durch die Glaswand an der rechten Seite erkannten sie, daß die blasige Flüssigkeit auch das Innere des Raumes erfüllte und schon drei Meter hoch stand.
»Die Wände biegen sich!« rief Al. »Lauft, was ihr könnt!«
Ein wehklagendes Ächzen lag in der Luft, dann knirschte es einige Male kurz hintereinander. »Die Wände bersten!«
René konnte seinen Blick nicht von der Glasfläche lösen. Sie war nun nicht mehr durchsichtig und glatt, sondern von einem Spinnennetzmuster von Sprüngen durchzogen. Es wurden immer mehr Risse, ohne daß man sie wachsen gesehen hätte, schon lagen sie so dicht aneinander, daß die Durchsicht unterbunden war; die Wand erschien mehligweiß. Wie unter unwiderstehlichem Zwang wölbte sie sich schließlich in einem befreienden, aber tödlichen Atemholen. Sie blähte sich wie ein Gummiball, den man aufpumpt, und löste sich dann langsam in Millionen kleine Plättchen auf. Sekundenlang klebten die Splitter wie Schuppen auf einem breiten, zylindrischen Wulst, der sich behäbig in die Straße wälzte, dann wurden sie unter ihm begraben.
Die vier Menschen rannten, so rasch sie konnten, sie rannten eng an der linken Wand entlang, sie rannten, wie sie noch nie gerannt waren, aber sie rannten nicht schnell genug. Ihre Augen hefteten sich an die sich schließende Gasse, in die sie sich hineinbewegten, an die zähen Massen, die sich wie ein Riegel vor sie schoben, an das eingedrückte, schmale noch freie Rechteck, das zusehends schmaler wurde.
»Halt«, brüllte Al und schlitterte in dem vergeblichen Versuch stehenzubleiben noch ein paar Meter weiter. Während die Front des Gebäudes links überall glatt und undurchbrochen war, führte hier eine flächenhafte Konstruktion wie ein Spalier die Wand hinauf. An ihren Füßen spürten sie schon zähen Widerstand, und so stürzten sie sich verzweifelt auf diesen Halt, der ihnen nicht allen zugleich Platz bot. Sie drängten, stießen, rutschten ab, fühlten ihre Beine in fließende und ansteigende Massen eintauchen, winkelten verbissen die Arme an, zogen Strähnen von klebrigen Fäden nach… Don war als erster oben, auf einem schmalen Gesims… Al stand in halber Höhe auf den Sprossen… hielt Katja die Hand entgegen… sah in ihr graues maskenhaftes Gesicht… René kämpfte noch immer mit den Schleimmassen, die ihn wie flüssiger Gummi hinunterzogen… er ruckte wild hin und her, stieß Katja an…