René war damit beschäftigt, eine Kugel glühenden flüssigen Metalls frei schwebend in der Luft zu halten.
»Hallo, René«, sagte Al. »Ich habe die Einwohner gesehen!«
René justierte zwei Polschuhe ein. Zu den Mikrometerschrauben hinunter antwortete er:
»Das ist schön, Al. Wie sehen sie aus?«
»Wie Menschen.«
»Wie wir es uns vorgestellt haben«, murmelte René. Durch Hochregeln der magnetischen Energie gelang es ihm, den fußballgroßen Tropfen in Rotation zu versetzen; deutlich plattete er sich an den Polen ab.
»Wenn ich nur wüßte, was für eine Kraft noch dabei ist«, sagte René. »Durch Magnetismus allein geht es nicht.«
»Das kann doch nicht so schwierig sein«, sagte Al. »Hast du noch irgend etwas Bemerkenswertes gefunden?«
»Einige Laboratorien«, antwortete René. »Du kannst dir nicht vorstellen, was die alles experimentell betrieben. Nicht nur Physik und Chemie – auch Mathematik. Ein Laboratorium scheint sogar für Historik zu sein!«
Al horchte auf.
»Kannst du es mir zeigen?«
René trennte sich mit merkbarem Mißbehagen von seinen Instrumenten. Er ließ die flüssige Kugel in ein Gefäß hinuntergleiten, wo sie auseinanderfloß, und richtete sich auf.
»Komm, ich zeig’ es dir.« Sie traten auf den Gang hinaus, René riß einige Türen auf, schaute hinein, ging zur nächsten… Endlich sagte er: »Hier ist es.«
Sie kamen in einen Raum, der sich vor allem durch die Ausstattung von den anderen unterschied – eine Mischung zwischen Labor und Museum. Neben einigen unbestimmbaren Apparaturen gab es die drei Wiedergabestühle mit den dazugehörigen Behältern für die Schaltungen. In die Wand eingelassen waren einige Glasfenster, die zu Vitrinen führten. Innen standen wirklichkeitsnahe Modelle von Siedlungen, Dörfern, Städten. Darin bewegten sich Punkte und Striche, in den kleinen Orten nur vereinzelt, in den großen in ganzen Schwärmen.
»Die Einwohner und die Fahrzeuge«, bemerkte Al. Er griff an eine Schalttafel und schob einen Zeiger über eine Skala.
»Paß auf!«
Plötzlich veränderte sich eines der Modelle. Der Ort breitete sich aus, neue Gebäude schossen wie Pilze aus dem Boden, Bäume und Grünanlagen verschwanden, Fabriken mit Schornsteinen, Straßenbrücken, Flugplätze traten an ihre Stelle…
René schaltete wieder.
Explosionen erschütterten die Stadt, Häuser fielen in sich zusammen, Krater gähnten… Wie ein rasches Gewitter schlug das Unheil auf die Siedlung hinab, und wie ein Gewitter ging es vorbei. Die aufgerissene Erde überzog sich mit Grün, moderne Häuser füllten die Lücken zwischen den alten aus, der Verkehr verdichtete sich zu einem Höhepunkt und flaute dann wieder ab.
»Tatsächlich«, sagte Al. »Experimentelle Geschichte.«
Er wollte sich schon von der Demonstration abwenden, da hielt ihn etwas zurück. Anstelle der Siedlung gähnte jetzt ein flacher Krater, und darüber hing ein weiß und grau gestreifter Rauchpilz.
Al schauderte.
»Wir scheinen wirklich nicht viel Zeit zu haben«, sagte er. Er ging hinüber an die andere Wand, die mit Fächern ausgefüllt war. Vielleicht ist das Ordnungsprinzip hier dasselbe, dachte er. Er griff in jenes Fach, in dem seiner Vermutung nach die Grundtatsachen eingereiht sein mußten, und woraus sollten diese bei der Geschichte bestehen als aus einem Überblick von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart.
»Vielleicht erfahren wir doch noch, was aus ihnen geworden ist«, sagte er leise vor sich hin, dann zeigte er auf einen Demonstrationsstuhl und wandte sich an René: »Setz dich und gib nun acht!«
Die Apparaturen waren ihm jetzt schon gut vertraut. Immer mehr Einzelheiten fielen ihm auf, die er auch von der Erde her kannte. Er verband beide Stühle durch ein Kabel und stellte auf Gemeinschaftsempfang. Dann steckte er ein Aufzeichnungsblatt in den Schlitz und legte die anderen auf einen Teller, von dem sie, sobald das erste Blatt abgespielt war, hinuntergleiten und dessen Stelle im Abtaster sie nach und nach einnehmen würden.
Al und René setzten die Empfängerhelme auf…
Was er erwartet hatte, trat ein. Es begann bei einer kleinen Gruppe von fellbehangenen Primitiven, die mit steinernen Faustkeilen bewaffnet durch dichte Wälder schlichen. Sie hatten solche Bilder schon gesehen, und das Bildhafte selbst beeindruckte sie nicht so sehr. Aber sie hörten die rohen Schreie, mit denen sich diese Steinzeitmenschen verständigten, sie rochen den Schweiß und das Blut, spürten Ungeziefer an der Hand und Dornen in den nackten Sohlen. Das Beeindruckende war, daß sie das alles nicht empfanden, wie sie zu empfinden gewohnt waren, sondern so wie diese stumpfen Urwesen selbst, und daß sie auch ihre geistigen Regungen fühlten. An diesen Eindrücken war nichts Klares und nichts Reines, zwar war alles da, und es war vollständig da, das Wasser, das sie schlürften, die Bäume, hinter denen sie sich versteckten, die Felsen, unter denen sie hausten, das Fleisch, das sie fraßen, die Weiber, die sie begehrten, alles war wirklich, aber es erschien seltsam vage, seltsam verschleiert. Sie erlebten Gefühle, die sie auch heute noch erlebten, Freuden und Ängste, Wut und Ergebenheit, aber manches bestürzend stark, ohne Möglichkeit der Kontrolle, ohne Möglichkeit, etwas dagegen zu tun – unmittelbar, schicksalhaft.
Al schüttelte den Bann, unter dem er stand, mit Gewalt ab, er drückte die Beschleunigungstaste, die Bilder versanken, andere tauchten auf: vertraut und doch neuartig; Gefühle erstanden, altbekannt und doch ungewohnt.
Mittelalter. Burgen. Rüstungen. Holzkohlenfeuer und schmiedeeiserne Gitter. Aberglaube. Kulte. Verfolgung und Folter. Haß und Angst. Dumpfes Eingesponnensein in kindliche Vorstellungen. Ungewisse Hoffnungen auf Belohnung im Jenseits. Schmutz. Krankheiten. Pomp und Sklaverei. Greuel und Reue…
Atomzeit. Baracken, Verkehrsunfälle. Marschierende Kolonnen. Bomben. Machtwahn und Ohnmacht. Leichtsinn. Lüge. Unterdrückung. Wissensdurst. Furcht vor den entfesselten Naturkräften. Anmaßung und Selbstüberschätzung. Festhalten an überholten Überlieferungen. Affekte und Triebhandlungen. Mißtrauen und Maßlosigkeit. Geistiges Versagen. Massennot und Massentod.
Friedensstaat. Gartenstädte. Reihenhäuser. Projektionswände. Demonstrationsstühle. Automaten. Schwebeboote. Sicherheit. Wunschlosigkeit. Erfüllung. Wohnkultur. Kunst. Beschaulichkeit. Spiele. Illusionen. Gesundheit und Genuß. Sättigung und Langeweile. Freiheit von Verantwortung. Rausch, Traum, Schlaf…
Al verlangsamte den Ablauf und drehte noch ein Stück zurück. Von hier an wollte er alles genau wissen. Die springenden Bilder verschmolzen wieder zu zusammenhängendem Geschehen, das auf und ab flutende Rauschen zu artikulierten Lauten, die Stimmungsfetzen zu logisch begründeten Gefühlsschwankungen.
Er sah die Stadt, die alte Festung auf dem Hügel, die neue, vom Graben umgebene Burg, den mittelalterlichen Ring, die moderne Riesenfläche der Großstadt, die bis zum Gebirge anwuchs. Dann fiel ein Bombenregen, und nur ein ungeheurer Schutthaufen blieb zurück. Langsam wuchsen daraus Bauten hervor, einheitlicher und moderner, und weitere, noch moderner, Generationen von Bauten – und zuletzt war der Ring der Gartenstadt entstanden; darum herum zog eine liebliche Landschaft aus Wiesen, Seen und Felstürmen – gepflanzten Wiesen, angelegten Seen, künstlichen Felsen. Die historische, ringförmige Innenstadt wurde restauriert, im Zentrum entstand die alte Burg – als Lichtkulisse; darunter lagen die Automaten, die für alles sorgten und von denen man doch möglichst wenig sehen wollte.