Dann geriet der Planet in einen Meteorschwarm, und sie bauten den unsichtbaren Schutzschild über die Stadt. Trotz der wiedergewonnenen Sicherheit bewegte sich nur noch selten jemand aus seinem Haus heraus. Die meiste Zeit saßen sie vor den Projektionsschirmen, schauten hinaus ins Vorland, ließen sich Märchen vorgaukeln, blendeten sich ins Geschehen ein oder nahmen passiv daran teil. Sie brauchten sich nicht mehr zu bewegen – alles, was sie erleben wollten, suggerierte ihnen die Totalwiedergabe. Sie brauchten nicht mehr zu essen – Leitungen spülten flüssige Nahrung an ihre Sitzplätze. Sie saßen, träumten oder schliefen…
tagelang…
monatelang…
generationenlang…
Während dieses Geschehen ablief, war Als und Renés Einfühlungsvermögen stetig gewachsen. Sie sahen die Dinge deutlicher, sie erlebten die Empfindungen klarer, sie verstanden besser, was geschah. Von jenem Stadium an, das sie nun erreicht hatten, senkten sich wieder Schleier über die Szenen, und ihre Gefühlsreaktionen wurden von einer seltsamen Lähmung ergriffen. Die Farben wurden blasser, die Umrisse verschwommen, alles verlief in einem geheimnisvollen Halbdunkel, oft löste es sich in nicht faßliche Impressionen auf – in sehr angenehm wirkende Impressionen –, die Geräusche tönten wie Musik, das Körpergefühl verschwand, Düfte schwollen berauschend an. Aus diesem gestaltlosen Weben traten unvermittelt wieder klarere Eindrücke: Jemand läßt sich in ein Schwebeboot transportieren, steigt damit zweihundert Meter auf, unterbricht die Verbindung zur Energieschiene und stürzt ab.
Wieder herrschte das Halbdunkel, das sie nicht verstanden. Dinge glitten vorbei, die nicht zu erkennen waren – Schemen auf einer magisch beleuchteten Bühne. Sogar das Wünschen und das Wollen machte etwas anderem Platz, das Ziele kannte, ohne sie zu erstreben, Absichten, ohne sie zu verwirklichen. Al drehte an den Schrauben, aber er erreichte keine bessere Klarheit. Das, was hier beschrieben war, bewegte sich in anderen Denkgeleisen als menschliche Gehirne.
Und jetzt – Als Hände umkrampften die Stützen. Aus den Schatten trat noch dunklere Schwärze, Metall, eine tellerartige Mulde – die Pforte zum Innersten, doch offen… in das weite Loch hinein sanken Zylinder, eine unabsehbare Reihe… Graue Flecken rannen über die Szene, ein von Lichtpunkten übersätes quadratisches Muster zog vorüber, ein blaßdämmriger Streifen glänzte auf, Flüssigkeit schäumte, Drähte gabelten sich und vereinigten sich wieder, Zeiger wanderten, Kontakte schlossen sich, violettes Licht lag wie ein Dampf in einem Korridor, die Luft war feucht und lau, Leitungen, Drähte, Röhren, Reflektoren, Lampen bildeten Gehäuse, die an große Vogelkäfige erinnerten, eine endlose Reihe solcher Käfige lief durch den Gang, und in jedem saß ein rosafarbenes, fleischiges, vielfach zerlapptes Gebilde. Jedes hockte in einer Schüssel, die mit Flüssigkeit gefüllt war, jedes war durch Stäbe gestützt wie eine kostbare empfindliche Pflanze, einzelne Auswüchse waren von Hüllen umschlossen, in jedes ragten Drähte und Röhren hinein – durchsichtige Röhren, in denen farblose, gelbe und rote Flüssigkeiten pulsierten. Jedes sah aus wie eine in einen Käfig eingeschlossene Orchidee.
Hier brach die Vorführung ab.
Verwirrt und benommen erhoben sich Al und René aus ihren Stühlen.
»Bist du daraus klug geworden?« fragte René.
»Die Geschichte der Stadt ist mir klar«, antwortete Al. »Es ist eine ganz normale Geschichte, wie sie sich auch in jeder unserer Städte zugetragen haben könnte. Sie hat auch ihr Atomzeitalter durchgemacht. Die Bomben, durch die sie vernichtet wurde, waren zweifellos Atombomben. Ich glaube sicher, daß noch irgendwo welche aufbewahrt sind.«
»Sehen wir, ob Jak sie schon aufgestöbert hat«, schlug René vor.
Während sie den Weg nach oben suchten, fuhr Al fort: »Wir kennen jetzt auch die Erklärung für den unsichtbaren Schutzschirm, der uns zuerst soviel Kopfzerbrechen bereitet hat.«
»Ein Meteorschwarm«, erinnerte sich René. »Aber warum haben sie denn die Krater in ihrer Landschaft nicht beseitigt? Mit ihren Mitteln muß ihnen das doch ein leichtes gewesen sein.«
»Noch einfacher ließen sich die Spuren offenbar auf andere Art verwischen. Diese durchsichtigen Wände, die wir in den Häusern gefunden haben, sind Leuchtschirme, auf die sich alles bringen läßt – Nahes und Fernes, Gegenwärtiges und Vergangenes, Wirklichkeit und Phantasie. Eine kleine Änderung in der optischen Steuerung – und niemand sah noch etwas von den häßlichen Einschlägen.«
»Und eine ebensolche Täuschung war auch der Zweck der Luftspiegelung. Wie kann man mit so etwas zufrieden sein!«
»Warum nicht! Denk daran, wieviel bei uns Schwindel, Schminke und Fälschung ist!«
»Na schön! Aber wir wissen doch, wo etwas unecht ist!«
»Wird es dadurch echter?«
René verzichtete auf eine Antwort. Sie erreichten den hochgelegenen Aussichtsturm und hielten Ausschau. Das Gelände bot das Bild schwerer Verwüstung. Längst war es nicht mehr so übersichtlich wie vorher – es fiel ihnen schwer, in dem Durcheinander Jak, Don und Heiko zu finden.
»Verstehen sie etwas von technischen Dingen?« fragte Al.
»Heiko weiß ziemlich viel«, sagte René.
Das bestätigte sich bald. Heiko bog um eine Ecke und kam gleich wieder hervor: auf dem Hochsitz einer Zugmaschine. Er dirigierte einen gegliederten Scherenarm in eine offenstehende Tür. Jak und Don zwängten sich daran vorbei in den Raum. Nach zwei Minuten bewegte sich der Arm wieder. Die Glieder klappten zusammen; an den Greifbügeln hing ein schwerer zweirädriger Karren, ein Raketengeschoß in seiner Abschußvorrichtung – sie konnten es deutlich in dem zylindrischen Lafettengerüst stecken sehen.
»Sie fahren auf den Stadtrand zu!« sagte René.
»Vielleicht können wir es noch verhindern!« rief Al. Er bemühte sich, seinem Gedächtnis den Grundriß der Bauten und den Standort von Jaks Mannschaft einzuprägen.
Sie stürmten die geneigten Bahnen hinunter, durch die dunklen Gänge zum Ausgang. Das Licht hüllte sie blendend ein, aber sie liefen, ohne sich hindern zu lassen, weiter, um Schutthaufen, um zusammengefallene Gebäude und um Kraterlöcher herum. Viel war zerstört, aber viel war auch noch unberührt. Als Blick streifte diese vollkommenen Konstruktionen, als sähe er sie zum letzten Mal.
Er sah sie zum letzten Mal.
Sie erreichten die anderen, als sie an der Stadtmauer ankamen.
»Wartet«, schrie Al schon von weitem. »Wir haben Filme von den Einwohnern gefunden. Ihr könnt die Bilder zur Erde funken!«
»Wie sehen sie aus?« fragte Jak.
Al blieb keuchend stehen.
»Schau sie dir selbst an! Es sind phantastische Filme!«
Man sah Jak an, daß er im Zweifel war. Er blickte auf den mattglänzenden Körper des Raketengeschosses, das wie ein Fisch im Netz lag, und dann wieder auf Al.
»Setz diese Gelegenheit nicht aufs Spiel!« mahnte Al. Er versuchte, die Unsicherheit Jaks zu nutzen.
»Läßt du dich überreden?« fragte Don. »Kann man dich so leicht überreden?«
»Wir haben Zeit«, sagte Jak. »Wir könnten uns die Sache ansehen!«
In Don kochte wieder der Ärger.
»Wer weiß, was dann passiert! Jeden Moment können die Automaten kommen und alles abtransportieren!«
Heiko mischte sich ein.
»Ich glaube, wir haben in der Zentrale das Verbindungsnetz lahmgelegt. Was sollte also…«