Selbst hier in dieser Höhe waren die Spuren der Hitzewelle noch zu erkennen. Vorspringende Felsspitzen waren rundgesintert, Wülste abgeronnener flüssiger Minerale liefen wie die Ranken von Kletterpflanzen abwärts. Als Al und René nun hinunterstiegen, splitterten immer wieder dünne zerbrechliche Überzüge aus erstarrtem Material unter ihren Füßen. Manchmal sackten sie auch in sanderfüllte und daher nicht erkennbare Löcher ab.
»Der Boden ist echt«, stellte René fest, als er unten ankam. Er bückte sich, hob eine Handvoll Sand auf und ließ die weiche Masse durch die Finger rinnen. Al watete einige Meter hinaus und begann mit den Füßen zu scharren. Nach einer Weile rief er René zu sich heran.
»Was hältst du davon?«
René kniete nieder und befühlte die glatte Decke, die unter einer Sandschicht zum Vorschein gekommen war.
»Plastik«, sagte er. »Dieselbe Plastiksubstanz, aus der früher die Felsnadeln in der See- und Wiesenlandschaft bestanden.«
»Ich glaube, es hat doch Sinn«, sagte Al. René blickte verständnislos zu ihm auf.
»Ich glaube, es hat Sinn, sich hier umzusehen. Es ist noch etwas da, das Veränderungen hervorruft. Diese Plastikmassen sind doch nichts Natürliches.«
»Jetzt verstehe ich«, sagte René. Er richtete sich wieder auf und klopfte die Hände an der Hose ab. »Sie sind noch da. Sie leben, und sie haben das Tal mit dieser Substanz gefüllt. Aber warum?«
»Vielleicht, weil sie etwas schützen wollen, was darunter liegt.«
»Eine unglaubliche Leistung«, meinte René. »Und das innerhalb von vierzehn Tagen! Wir haben einiges versäumt!«
Sie stapften langsam zum Berghang zurück.
»Scheußlich, dieser Sand«, klagte René. Und dann fiel ihm etwas ein. »Mensch, Al! Woher kommt er eigentlich?«
»Leicht zu erraten!« Al lächelte belustigt. »Radioaktive Asche, die nach der Explosion aus dem Atompilz abgesunken ist.«
René erschrak. Hastig rannte er vor und sprang auf den Felsuntergrund.
Al kam gemächlich hinterher.
»Da bist du auch nicht sicherer. Ich wette, die ganze Oberfläche ist radioaktiv.«
Vergnügt beobachtete er René. Dann sagte er:
»Was soll uns die Strahlung schon ausmachen? Vergiß nicht, daß jetzt keine Regeln mehr gelten!«
René atmete hörbar auf.
»Es ist so seltsam«, sagte er. »Ich muß mich erst daran gewöhnen.«
»Für mich ist es genauso seltsam«, sagte Al. Er hatte René eingeholt, und sie kletterten nebeneinander die Böschung hinauf. »Aber das mit der Radioaktivität ist noch das einfachste. Die spürt man sowieso nicht. Wir brauchen sie eben einfach nicht zu beachten. Aber genaugenommen zwingt uns doch auch nichts, die üblichen Sinneseindrücke beizubehalten. Was soll uns beispielsweise Kälte schaden? Wenn sie dir lästig wird, kannst du sie einfach abdrehen! Bei Hitze würde ich dir das allerdings nicht empfehlen.«
René war verwirrt, doch er wollte sich nichts anmerken lassen.
»Gewiß, Hitze würde schaden. Man könnte allerdings die Schmerzschwelle ein ganzes Stück hinaufrücken. Und wie steht es mit dem Sehen? Wäre es nicht angebracht, den sichtbaren Spektralbereich zu erhöhen? Beispielsweise übers Ultraviolett?«
»Das kannst du machen. Ich glaube zwar nicht, daß es dir viel helfen wird.«
»Wenn wir schon die Regeln nicht mehr zu beachten brauchen – warum verwenden wir nicht leistungsfähigere Modelle? Solche, die besser hören und besser sehen?«
»Es gibt keine anderen mehr. Die alten aus der Raketenzeit sind längst nicht mehr einsatzfähig. Auch die Feinheit der Umsetzung war gering, wenn auch der Empfindungsumfang weiter war. Wir hätten etwas Neues entwickeln müssen – und dazu wäre viel Zeit nötig gewesen. Vielleicht müssen wir es trotzdem noch tun. Aber es hat noch einen zweiten Grund. Ein solches Modell nimmt ja ganz andere Qualitäten auf, als wir durch unsere Sinnesorgane gewöhnt sind. Was glaubst du, wie lange das dauert, bis sich das menschliche Gehirn einübt! Solange wir nur gewohnte Eindrücke zu verarbeiten haben, können wir rasch und sicher reagieren. Ich glaube, wir werden das nötig haben.«
Sie waren wieder auf ihrer künstlichen Plattform angekommen. Das Land unter ihnen wirkte unbeschreiblich leer und öd. Jetzt, wo sie wußten, daß vielleicht irgendwo darunter etwas versteckt lag, dessen Antriebe und Absichten sie nicht verstehen konnten, war noch etwas Drohendes dazugekommen.
Al hatte einige Minuten geschwiegen. Der Wind preßte die Kleidung an seinen Körper. Er fröstelte und zog den Kragen hoch.
»Ich friere«, sagte er, »aber es ist eigenartig: Ich fühle mich wohl dabei. Solange es nicht nötig wird, lasse ich alles, wie es ist.«
»Mir geht es genauso«, sagte René. »Es kommt mir wunderbar vor, eine ernste Aufgabe zu haben. Wirklich etwas leisten zu können. Einem ernsten Gegner entgegenzutreten.«
»Wir müssen uns erst daran gewöhnen«, sagte Al. »Eigentlich ist es ein unglaublicher Zufall, daß gerade wir hier auf etwas gestoßen sind, das sich von alldem unterscheidet, was bisher aufgefunden wurde.«
»Vielleicht haben andere schon etwas Ähnliches gefunden, es aber nicht weiter beachtet? Aufgegeben wie Don, Jak und Heiko?«
Al spürte etwas Seltsames: Er hatte plötzlich den Eindruck, nicht mehr in einer selbstverständlichen Welt zu leben, sondern inmitten einer Fülle von lockenden Geheimnissen und Rätseln.
»Könnte es nicht möglich sein…«, sagte er. »Ich meine: Könnte es nicht im Weltraum noch viel mehr Unbekanntes geben? Vieles, was sich lohnt – wenn man sich damit beschäftigt?«
René konnte ihm diese Frage nicht beantworten, doch zum ersten Mal verstand er die abwegigen Gedankengänge des Freundes.
2
Der Hubschrauber trug sie über die radioaktive Wüste. Der Wind schüttelte sie, hob sie empor und ließ sie dann hinunterfallen. Sie schwankten hin und her; genau wie in ähnlichen Lagen auf der Erde kam es ihnen vor, als stemme eine unterirdische Gewalt die Landschaft unter ihnen empor.
»Rechnest du mit einem Schutzschirm – ähnlich wie dem über der Stadt?« fragte René.
»Ja«, sagte Al. Er starrte in die flimmernde Leere vor sich.
»Was dann?« fragte René.
»Dann müssen wir die Geräte schleppen.«
Wider ihre Erwartungen kamen sie unangefochten weiter. Nichts hielt sie auf, keine Spiegelung schien sie zu narren.
»Hier irgendwo muß das Zentrum sein«, sagte René.
Al zog den Steuerknüppel durch.
»Ich gehe hinunter.«
Er lenkte auf eine ebene Felsfläche zu. Aus kleinen Löchern wirbelten Fontänen von Sand hoch. Sanft setzte er auf, öffnete die Tür und sprang zu Boden. Er schnupperte: Seltsamerweise roch es auch hier nach Thymian.
René reichte Al die Sprengladungen und das Traggestell mit dem Seismographen. Al nahm die Haftkapseln an sich und trug sie etwa zwanzig Meter weit über die Felsplatte. Dann befestigte er sie am Boden und zog den Zünddraht zum Flugzeug zurück. Er führte das Ende über einen Schalteinsatz an einen Pol der Batterie und erdete den anderen.
René hatte den Seismographen einjustiert und setzte ihn probeweise in Betrieb. Auf dem auslaufenden Band erschien eine leicht gewellte Linie. Nervös hantierte er am Gerät.
»Was ist?« fragte Al.
»Der Störuntergrund ist viel zu schwach«, erklärte René.
»Was bedeutet das?«
»Durch den Boden laufen immer Erschütterungen. Das Gerät nimmt sie auf. Darum ist die Nullinie gewellt. Aber die Ausschläge hier sind viel schwächer als anderswo.«
»Probieren wir es doch einmal«, schlug Al vor. »Bist du soweit?«