»Aber nicht jetzt«, mahnte Al mit leiser Ironie. Er blickte in die Öffnung. »Ich riskiere es!« Er setzte sich an den Rand und ließ seine Beine baumeln. Vorsichtig beugte er sich vor, ertastete mit den Fußspitzen einen Halt und verlagerte allmählich das Gewicht darauf. Hier gab es keinen Boden, und Al mußte alle Konzentration aufwenden, um von seinem engbegrenzten horizontalen Standplatz aus eine vier Meter tiefer gelegene Stelle zu erreichen, wo er wenigstens halten konnte, ohne wie ein Seiltänzer zu balancieren.
Zunächst sah er nach René, der es vorzog, sich auf allen vieren zu bewegen. Es mutete an wie eine Kletterei in der Zirkuskuppel – von Hängeboden zu Hängeboden. Es sah gefährlich aus, aber nicht das war es, was Al das Blut jäh in den Kopf steigen ließ – der Deckel hatte sich lautlos geschlossen. Sie saßen in der Falle.
Als René sichere Stützen für Gesäß, Ellbogen und Füße gefunden hatte, merkte er den Grund für die Betroffenheit Als und mußte selbst um Fassung kämpfen.
»Der Deckel ist zu. Überrascht dich das?« fragte er.
»Eigentlich ist es nicht verwunderlich. Aber ich habe nicht daran gedacht.«
Bis jetzt hatten sie sich geistig noch in ihrer gewohnten Umgebung befunden, zwar einer fremden Umgebung, aber doch einer solchen, in der jede Einzelheit nach menschlichen Maßstäben zu messen war. Sie waren einige Meter hinabgeklettert und hatten dabei nur das Unnatürliche des engsten Umkreises erfaßt. Aber jetzt, als der Rückzug verschlossen war, wurde ihnen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich klar, daß sie sich in einer anderen Welt befanden.
Sie hingen in einer Art Gerüst, das nur aus einem einzigen Bauelement bestand – aus jenen Blöcken, die ihnen schon am Beleuchtungskörper der Aufzugkabine aufgefallen waren. Es schien sich aber um bedeutend mehr zu handeln als um Lampen. Jeder Block hatte die genaue Form eines Würfels. Die Seitenflächen waren unvergleichlich glatt, obwohl sie keineswegs ohne Struktur waren. Im Gegenteiclass="underline" Neben den leuchtenden Scheiben gab es noch mehrere dunkle eingesetzte Flecken, die genauso präzise wie diese in die Fläche eingeschliffen waren, und Linien, die als Gerade parallel zu den Kanten oder als Kreise konzentrisch um die Kreisscheiben herumliefen.
René strich mit dem Finger über die eisglatte Würfelfläche und stutzte. »Probier das einmal«, sagte er.
Al kümmerte sich zunächst nicht um Einzelheiten, sondern versuchte einen Überblick zu gewinnen. Die ganze Örtlichkeit bestand aus diesen Würfeln, die wie Ziegel aneinandergereiht waren, jedoch nicht in der Form von Mauern, sondern als vielfach abgewinkelte Gerüste. Die Art ihrer Befestigung aneinander schien so stark zu sein, daß die Schwerkraft keinen Einfluß auf die Anordnung ausübte. Aus aneinanderliegenden Würfeln waren lange Balken geformt, von denen Seitenstreben ausgingen, die manchmal zu anderen Würfeltürmen führten, manchmal auch frei endeten und auf denen oft ganze Klumpen von regelmäßig geschichteten Bausteinen lasteten. Es gab auch keine Wände und keinen Boden – der Raum erstreckte sich in alle drei Dimensionen. Auf den freien Seiten der Bausteine leuchteten die Scheiben, jede einzelne von ihnen sandte nur schwaches Licht aus, aber alle zusammen füllten den Raum mit völlig gleichmäßiger, unräumlicher, schattenloser, matter Helligkeit, die milchig trüb in den Zwischenräumen lag.
All das aber war nicht still und tot, sondern ein eigenartiges Sichregen erfüllte die Gerüste, und gelegentlich näher, gelegentlich ferner zirpte, paffte, schnarrte, gluckste, knisterte und knackte es.
Nun erst folgte Al der Aufforderung Renés. Er berührte eine der ihm zugewandten Würfelflächen und merkte gleich, was der Freund gemeint hatte.
»Dieses Muster hat eine Bedeutung«, sagte er. »Hier ist eine warme Stelle… und diese vibriert.«
»Es scheinen Organe zu sein – mit denen das Unbekannte nicht nur Licht, sondern auch Schall, Wärme und wer weiß was sonst noch aussendet.«
»… und wahrscheinlich auch empfängt«, setzte Al hinzu. »Glaubst du, daß Sender eingebaut sind, die die Informationen weiterleiten?«
»Ich glaube eher, daß sie von einem Würfel zum andern geleitet werden.« Er betrachtete das Oberflächenmuster noch einmal genau und tippte auf zwei hellere Punkte. »Das könnten die Kontaktstellen sein.«
»Wir stehen also unter Bewachung«, meinte Al. »Dagegen waren die Masten mit den Kugelobjekten ja noch harmlos.« Er griff nach einem Würfel und zerrte daran. »Scheint unglaublich fest zu sein. Rührt sich überhaupt nicht.«
»Da brauchen wir uns wenigstens keine Gedanken darüber zu machen, daß das Ganze unter uns zusammenbricht.«
Al wandte sich von den Würfeln ab.
»Wie wäre es mit einer kleinen Kletterpartie?«
»Wenn es sein muß!«
Al spähte nach einem Weg wie ein Bergsteiger, der sich eine schwierige Route durch die Wand zurechtlegt, und kletterte dann abwärts. Es gelang überraschend gut, bald fielen sie in ein befriedigendes stetiges Tempo, das sie beibehielten.
»Glaubst du, daß das immer so weitergeht?« fragte schließlich René.
»Nein«, antwortete Al. »Irgendwo muß doch etwas anderes sein. Zum Beispiel das Steuerzentrum.«
»Das Gehirn? Ich fürchte, das ist zu menschlich gedacht. Warum sollen die Denkfunktionen in einem Ort zusammengezogen sein? Weil es bei den organischen Lebewesen so üblich ist? Heute, wo wir schön auf der Erde alle Elektronenhirne über weite Entfernungen zusammengeschaltet haben, ist das längst überholt. Und erst hier? Es kommt mir eher vor, als wäre jeder dieser Würfel ein gleichberechtigter Teil des Ganzen. Da können wir lange suchen.«
»Das alles dürfte richtig sein. Aber trotzdem muß es hier noch etwas anderes geben. Ich bin der Meinung, daß dieses System aus den Automaten der Maschinenstadt hervorgegangen ist. Sein Zweck kann kein Selbstzweck sein. Es muß eine Aufgabe haben. Und ich bin überzeugt, daß es diese Aufgabe perfekt erfüllt.«
René turnte an einem durchbrochenen Wandstück, das wie eine unförmige Leiter aussah. Bei jeder Bewegung schienen sich die unzähligen Lichtpunkte zu neuen Reihen und Mustern zu gruppieren. Manchmal sah es aus, als bestünde der ganze Raum aus nichts anderem als aus schwebenden Lichtern.
»Was soll das für eine Aufgabe sein«, fragte René, der ein Horizontalstück erreicht hatten, auf dem er sich ein wenig ausruhen konnte. »Die eigentliche Aufgabe solcher Maschinen, die Betreuung von Menschen, kann es ja nicht sein. Wenn du vielleicht gedacht hast, du findest hier etwas von den letzten Bewohnern dieses Planeten, dann hast du dich getäuscht – das siehst du doch jetzt sicher ein. Denn hier ist keine Spur von Menschen, diese Struktur ist Menschen überhaupt nicht angepaßt. Was soll es also für eine Aufgabe sein?«
Auch Al hatte sich niedergesetzt. Er schwitzte heftig von der Anstrengung der Kletterei.
»Was für eine Aufgabe?« wiederholte er. »Ich gebe zu, daß es hier Widersprüche gibt. Aber ich bin überzeugt davon, daß sich alles logisch erklären läßt. Wir haben die Situation nur noch nicht konsequent durchdacht. Wir müssen irgend etwas finden, das uns auf die rechte Fährte bringt.«
»Aber wonach willst du suchen?«
Al pfiff eine Weile leise vor sich hin. Dann sagte er:
»Etwas haben wir noch nicht gefunden: die blütenartigen Gebilde in dem langen Korridor. Den Orchideenkäfig. Es hat sicher einen triftigen Grund, daß der Filmablauf im historischen Labor gerade bei ihm aufgehört hat. Vielleicht liefert er uns des Rätsels Lösung.«
René teilte Als Zuversicht nicht.
»Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte er, »ich hab’ von hier genug. Ich halte es hier nicht aus. Dieses Gerüst, diese Luft, dieses Licht! Ich komme mir vor wie berauscht.«