»Was willst du tun?« fragte Al enttäuscht.
»Klettern wir zurück!« schlug René vor.
»Der Deckel ist geschlossen – wie willst du entkommen?«
»Sie werden ihn wieder aufmachen, Al. Was sollen wir hier? Sie lassen uns bestimmt hinaus.« Er schloß die Augen, um die verwirrenden Lichtmuster nicht mehr sehen zu müssen.
»Ja, René«, beruhigte Al. »Sie haben offenbar nichts Böses vor. Ich glaube auch, daß wir ungefährdet hinauskämen. Aber andererseits handeln sie doch nicht ohne Grund. Das ist doch alles viel zu vernünftig und geordnet! Es steckt Sinn dahinter. Willst du nicht abwarten, bis wir ihn erfahren?«
René versuchte noch immer, sich zusammenzunehmen, aber es gelang ihm nicht mehr ganz.
»Es ist furchtbar hier. Es wird mit jeder Minute furchtbarer. Ich möchte doch auch gern… Aber ich kann mir einfach nicht helfen! Mir schwindelt in diesem Hohlraum. Mir wird übel…«
Al konnte den Freund verstehen. Auch an ihm verfehlte die Umgebung ihre Wirkung nicht. Alle erzwungene Munterkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Er zwang sich dazu, den Blick stets auf nahe gelegene feste Punkte zu richten, denn wenn er einmal in die Ferne schweifte, begannen die Punktstreifen zu flimmern, zu tanzen, zu rotieren. Manchmal hatte er das Gefühl, als schwankte seine Umgebung, als gäben die Punkte, bei denen er Halt suchte, unter seinen Füßen und Händen nach, als befände sich hier nichts Festes oder Gefestigtes.
»Ist es so schlimm?« fragte er. »Ich fühle mich auch nicht gerade wohl. Aber ich will versuchen, es bis zum Ende durchzustehen. Wenn du willst, René, dann laß mich eben allein. Schalte einfach aus. Ich geh’ allein weiter. Was ist dabei?«
René hockte wie ein Bild der Verzweiflung auf einem Querbalken. Er blickte nicht auf, aber er schüttelte den Kopf.
Al redete weiter.
»Wenn du mich nicht verlassen willst, dann droßle doch einfach die Erlebnisintensität! Diesmal gilt doch keine Regel und kein Ehrenkodex. Niemand wird es dir übelnehmen.«
»Sei still, Al«, bat René. Lange Zeit sprach keiner von beiden. Dann richtete sich René auf.
»Gehst du vor, Al?« fragte er.
4
Hier unten schien nicht nur die räumliche Verteilung anderen Gesetzen zu folgen, auch die Zeit verhielt sich anders. Als Al während der nächsten Pause auf seine Uhr schaute, stellte er fest, daß erst zwanzig Minuten vergangen waren. Die Zeit war ihnen wie ein halber Tag vorgekommen.
Plötzlich hob Al Aufmerksamkeit heischend die Hand.
»Merkst du auch etwas?«
René strengte alle Sinne an… er wippte auf den Stufen, auf denen sie sich niedergelassen hatten, um ihre Festigkeit zu prüfen.
»Es kommt mir fester vor… das Unbekannte ist zur Ruhe gekommen. Meinst du das?«
»Ja.«
»Na, das kann uns ja nur angenehm sein.«
René schien nicht beunruhigt. Er blickte sich prüfend um… und zuckte zusammen.
Auch Al sah es. Eine ganze Reihe von Würfeln bewegte sich. Sie schob sich einfach zwischen den anderen hindurch…
»Dort«, schrie René.
Auch unmittelbar neben ihnen waren die Würfel in Bewegung gekommen. Es handelte sich nicht nur um ein einfaches Dahinwandern, sondern um komplizierte Umgruppierungen, die aber alle dadurch entstanden, daß Würfel aneinander vorbeiglitten, sich entlang ihrer Flächen verschoben – stets parallel zu den Kanten.
Selbst in jenem Augenblick höchster Beunruhigung empfand René einen Schimmer von Bewunderung für ein solches System, das sich selbst verformen konnte, für dieses Prinzip, dem über einfachste Bewegungselemente jede Gestalt zugänglich war.
Dann aber machten ihm die Vorgänge wieder mehr zu schaffen, so daß er keine Zeit mehr fand, technisches Ideengut zu bestaunen. Sie setzten sich in unmittelbarer Umgebung fort, veränderten die Wände, ebneten den Boden ein, schufen eine horizontale Decke. Ein kleiner Raum in Form eines hohlen Würfels von etwa vier Metern Kantenlänge hatte sich ausgebildet, Al und René standen mitten darin, und von den Seiten, von oben und von unten blickten Tausende erbarmungslose, kreisrunde, leuchtende Augen auf sie.
Später, als die Momente der Panik vorbei waren, untersuchten sie ihr Gefängnis. Es war nichts zu sehen, nur sechs quadratisch unterteilte Flächen. Jedes Quadrat trug die gleiche Ausstattung an eingelassenen Instrumenten und Linien, jedes war ungefähr fünfundzwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter groß. Sechzehn mal sechzehn solche Quadrate bildeten die Wand. Das war alles.
Nachdem sie die Mauern betastet und beklopft, an sie geschlagen und an ihnen gelauscht hatten, gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie setzten sich auf den Boden und warteten…
Sie warteten sieben Wochen lang.
Natürlich hielten sie es nicht ununterbrochen in ihrem Gefängnis aus. Von Zeit zu Zeit schaltete einer oder der andere ab, um sich zu erholen, aber stets blieb einer zurück. Sie entwickelten eine Ausdauer, die ihnen selbst unglaublich erschien, aber sie gaben nicht nach. Oft schmiedeten sie Pläne, wie sie die Geschehnisse beschleunigen könnten, sie dachten an einen Versuch, von außen ein zweites Mal einzudringen, aber immer wieder kamen sie zu dem Ergebnis, daß doch nur eines blieb: abwarten. Und so übten sie Geduld.
Stundenlang saßen sie beisammen und diskutierten, erzählten, unterhielten sich, viele Stunden hindurch schwiegen sie auch, oder sie streckten sich auf der Bodenfläche aus und schliefen.
Am Anfang der achten Woche geschah endlich etwas. Sie waren so erstaunt, daß sie zuerst ihren Augen und Ohren nicht trauten. Zuerst begann sich eine Wand zu bewegen: Sie glitt horizontal nach links, wobei sich genaugenommen nichts änderte, denn die Quadrate, die rechts zum Vorschein kamen, sahen genauso aus wie jene, die an der linken Seite verschwanden. Dann aber schob sich ein Ausschnitt in ihr Verlies hinein, einen Meter weit, bis ein Würfel von einem Meter Kantenlänge vor ihnen lag.
»Ich bin euer Verteidiger«, sagte der Würfel.
Al und René waren so perplex, daß sie keinen Laut hervorbrachten.
»Ich bin euer Verteidiger«, klang es noch einmal. Es war normale menschliche Sprache, und doch war eine Unbestimmtheit darin, die René erst später klärte: Sie rührte daher, daß die Schallschwingungen nicht von einer Membrane, sondern von vierundsechzig Membranen herrührten. Der Würfel stand so, daß vierundsechzig Teilwürfeloberflächen freilagen, alle besaßen je einen Vibrator, und jeder Vibrator formte gleichzeitig dieselben Worte.
Wieder tönte die Stimme, und es schwang sogar so etwas Menschliches wie Unsicherheit darin:
»Ist das nicht das richtige Wort: ›Verteidiger‹?«
René fand endlich die Sprache wieder.
»Es geht los«, sagte er zu Al.
»Ja, es geht los«, bestätigte der Freund.
»Bist du ein Botschafter?« fragte Al. »Soll jemand durch dich mit uns in Verbindung treten?«
»Verzeih«, antwortete der Würfel. »Ich verstehe noch nicht alles, was ihr sagt. Was ist ein Botschafter? Niemand will mit euch in Verbindung treten. Ich bin der Verteidiger.«
Al machte eine ratlose Geste zu René hin. Dann fragte er:
»Was meinst du mit Verteidiger? Wir stehen doch hier nicht vor Gericht.«
»Ihr werdet bald vor Gericht stehen«, ließ sich der Würfel vernehmen. »Und ich soll euch verteidigen.«
»Weshalb sollen wir vor Gericht gestellt werden?« fragte René.
Erstaunen klang aus den Membranen.
»Seid ihr nicht deshalb zurückgekommen: weil ihr euch verantworten wollt?«
»Nein«, sagte René. »Wir dachten gar nicht daran.«
»Wir dachten, es gehöre zu euren ethischen Prinzipien: Wer fehlt, muß die Verantwortung tragen. Er kommt vor Gericht und wird verurteilt oder freigesprochen. Vielleicht haben wir nicht alles verstanden. Aber das macht nichts. Ihr kommt vor Gericht.«