»Unser Sterilisationsmittel«, erläuterte der Roboter. »Wir sorgen dafür, daß kein fremder Keim eindringen kann. Auch wir müssen uns aus Sicherheitsgründen noch einmal entkeimen lassen.«
Sie betraten einen Schleusenraum, wie eine Schiebetür glitt die Wand hinter ihnen zu. Leichter Wind blies von allen Seiten gegen sie – Wind aus dem nach Thymian duftenden keimtötenden Gas. Dann öffnete sich die Wand vor ihnen.
Wieder waren sie in einer Art Labor. In einer Ecke erhob sich ein Glaszylinder, in dem etwas Undefinierbares grün leuchtete. Von ihm führten Stäbe zu unzähligen Skalen, über die weiße Anzeigestriche zuckten. Manchmal kam ein leises Fauchen aus elfenbeinfarbenen, birnenförmigen Körpern.
»Die Kontrollsteuerung«, sagte der Roboter. Noch immer glitt er gradlinig vor, und Al und René folgten ihm.
Sie passierten eine Verengung, einen Rahmen, in dem ein Nebelvorhang zu flattern schien.
»Eine letzte Kontrolle«, erklärte der Verteidiger. »Ein Durchleuchtungsrahmen.« Pelziger grauer Schimmer zuckte über sie hinweg und durch sie hindurch.
Sie standen vor einer Wand. Der Roboter schob sich an sie heran. Sie öffnete sich.
»Wir betreten die innerste Zone«, sagte er.
7
Sie standen in einem Korridor.
Feuchtigkeitsgetränkter, lauer Brodem schlug ihnen entgegen, violettes Leuchten wogte wie Dampf darin. Die rechte Seite war frei, der glitschige Boden lief geradlinig vor ihnen weg und verlor sich in der Ferne. Ihr Gesichtssinn reichte nicht, um das Ende abzusehen. Das Geräusch ihrer Schritte klang wie Schmatzen.
Die linke Seite erfüllte ein Geflecht aus Leitungen, Drähten, Reflektoren, Fäden, Stäben und Plastikhüllen. Darin, in Abständen von je zwei Metern, saßen rosarote, fleischige, vielfach zerlappte Gebilde, angestrahlt von violetten Lampen, eine unabsehbare Reihe, die sich in der Ferne verlor.
»Der Orchideenkäfig«, murmelte Al.
Manchmal lief Bewegung durch die Reihen wie vom Wind geregt, einzelne blätterhafte Organe zitterten, strafften sich, dehnten und drehten sich. Mit Gelenken versehene Stäbe folgten liebevoll jeder Lageveränderung; aus Rollen liefen Fäden nach; Lampen schwenkten um Millimeter; Stützen schoben sich aus dem Boden; eine rote Flüssigkeit wanderte träge durch Röhren, die direkt in die weichen Massen hineinliefen.
»Das sind die Menschen«, sagte der Roboter.
»Die Menschen?« fragte Al.
»Die Menschen?« fragte René.
»Sie haben sich weiterentwickelt«, sagte der Verteidiger.
»Ich glaube es nicht«, sagte René.
»Wie habt ihr sie euch vorgestellt?«
René stotterte:
»Ich weiß nicht… anders… nicht so…«
»Für uns ist es unfaßbar, wie aus Wesen wie uns solche Pflanzenleiber geworden sind«, sagte Al.
»Für uns ist es nicht erstaunlich«, sagte der Roboter. »Wir haben die Entwicklung – es war ein steter Übergang – beobachtet. Wenn ihr Biologen wärt, könntet ihr genau erkennen, welche Organe aus welchen hervorgegangen sind. Die Entwicklung ist noch keineswegs abgeschlossen – hier ist beispielsweise noch das Rudiment eines Magens.« Eines seiner Glimmlichter konzentrierte sich zu einem Strahl, der auf eine breitgedrückte dunkelrote Falte fiel. Dann wanderte er auf einen sanft pulsierenden Beutel. »Und hier, das Herz besteht immer noch, obwohl es keine Aufgabe mehr erfüllt – und auch nicht erfüllen könnte.«
Ein wenig Phantasie ersetzte die biologischen Kenntnisse. Al stellte sich einen Menschen vor, dessen Haut abgezogen, dessen Bindegewebe abgekratzt, dessen Knochen herauspräpariert und dessen Organe säuberlich voneinander gelöst waren; wenn die überbleibende Masse auf eine Art Spalier gezogen wurde, dann könnte wohl etwas Ähnliches entstehen. Er schauderte zusammen, er merkte, wie er vor Entsetzen aus allen Poren schwitzte. Ein krampfartiges Unlustgefühl zog durch seinen Unterleib. Fast hätte er noch im letzten Moment versagt. Er fragte:
»Wieso liegen diese Organe alle ungeschützt und offen da?«
»Sie brauchen keinen Schutz«, sagte der Roboter.
»Wo sind die Lungen?« fragte René.
Der Strahl zuckte auf zwei schlappe Faltenwülste.
»Hier sind sie; sie hängen mit dem Blutkreislauf nicht mehr zusammen.«
»Sie können sich nicht bewegen«, stellte Al fest.
»Wozu sollen sie sich bewegen?«
»Wo sind ihre Knochen?«
»Sie brauchen keine Knochen.«
»Und ihre Arme und Beine?«
»Sie brauchen weder Arme noch Beine.«
»Ihre Augen und Ohren?«
»Sie brauchen keine Sinnesorgane.«
»Wie nähren sie sich?«
»Wir führen ihnen alle Stoffe zu, die sie benötigen. In aufbereiteter Form – sie brauchen nicht verdaut zu werden. Es gibt keine Abfallprodukte.«
»Wie atmen sie?«
»Wir führen ihr Blut durch eine Pumpe, wo es bewegt, mit Sauerstoff durchtränkt und von Kohlendioxyd befreit wird.«
René fragte weiter. »Wo ist das Gehirn?«
Der Strahl kennzeichnete eine verknäuelte, vielfach verdickte Masse, die von einer Mulde in der oberen Hälfte der Gebilde herabwucherte. Von allen Seiten liefen feine Fäden wie Spinngewebe darauf zu und ins Innere hinein.
»Was sind das für Fäden?«
»Mit ihnen erzeugen wir angenehme Vorstellungen. Ruhe, Zufriedenheit, Glück – und anderes, wofür ihr keine Worte habt.«
»Denken sie nicht?«
»Wozu sollten sie denken? Glück kommt nur durch das Gefühl. Alles andere stört.«
»Wie vermehren sie sich?«
»Sie brauchen sich nicht zu vermehren, denn sie sterben doch nicht.«
»Können sie sich mit uns verständigen?«
»Sie brauchen sich nicht zu verständigen – mit niemand.«
Die beiden fragten nicht mehr. Mit schwimmenden Augen starrten sie auf die blütenhaften, schlaffen Organismen in ihren Schutzhüllen aus Metall, Glas und Kunststoff, die auf ihre Weise ihr Ziel erreicht hatten: das Paradies, das Nirwana, das Alles und das Nichts – einen violett durchdampften, feuchten unterirdischen Korridor.
»Das also ist es«, murmelte Al, »die Wunschlosigkeit. Der Frieden. Die Unschuld. Hast du noch eine Frage, René?«
»Nein, Al.«
Al sah zum letztenmal in die weißen Lichtpupillen des Würfels. Er sagte:
»Wir danken euch. Wir schalten jetzt ab. Ihr könnt mit unseren Pseudokörpern machen, was ihr wollt. Wir werden niemals hierher zurückkehren.«
Ihre Gestalten knickten zusammen und blieben leblos auf dem nassen Boden liegen. Das Wasser sickerte in ihre Kleider, doch sie merkten nichts mehr davon.
Nachspiel
Al löste die Hände von der Schalttafel und hob sie zum Empfängerhelm. Er setzte ihn ab.
Vor ihm wölbte sich ein mannshoher Rahmen. Er krümmte sich sieben Meter nach links und nach rechts. Durch ihn hindurch war René zu sehen. Er saß auf einem Stuhl und hielt die Augen geschlossen. Seine Finger hasteten über eine Tastatur.
Al drückte auf einen Knopf in seinem Schaltpult. Das Bild Renés verblaßte. An seiner Stelle erschien eine konkav gebogene mattweiße Plastikfläche.
Al bediente wieder einen Knopf in seiner Schaltanlage. Sein Demonstrationsstuhl rollte vor und brachte ihn an eine Wand, aus der zahlreiche silberne Rohrleitungen ragten und in gebogene Abtropfschnäbel ausliefen. Al drückte einen Hebel hinunter. Eine breite Öffnung klappte auf. Etwas surrte kurz, dann erschien ein Golfschläger, Griffzangen schoben ihn auf eine Theke. Der Schaft war leicht gekrümmt, das Holz hatte sich verzogen, der Lack splitterte in Schuppen ab; aber das war ohne Bedeutung. Al nahm ihn an sich und dirigierte seinen Stuhl zur Projektionswand. Er hob den Stock und ließ ihn auf die spröde Oberfläche niedersausen, wieder und wieder. Splitter trafen ihn und klirrten um ihn herum auf den Boden, bis er in einem Scherbenhaufen stand. Hinter der Scheibe kam ein flacher Trichter zum Vorschein, in dem zahlreiche Drähte kreuz und quer liefen.