Er war schon eine Weile gefahren, als er, ohne zu wissen, warum, den Wagen an den Straßenrand lenkte, eine Zigarette anzündete und versuchte, nicht daran zu denken, wie einfach es wäre, zu wenden und den Weg zurückzufahren, den er gekommen war. Nach wenigen Zügen löschte er die Zigarette im Aschenbecher, stieg aus und ging in den Wald. Beim würzigen Duft der Heidelbeeren wurde ihm wohler. Er marschierte tüchtig drauflos, bis er in Schweiß geriet und nicht mehr an Jean Elkins, an Leslie und an den Tempel dachte. Schließlich kam er an ein Flüßchen, das, etwa zweieinhalb Meter breit, seicht und klar dahinzog. Der Grund bestand aus Sand und abgefallenen Blättern.
Michael zog die Schuhe aus und watete in das kalte Wasser. Er konnte keinen Fisch entdecken, aber nahe dem vor ihm liegenden Ufer sah er Wasserläufer ihr Spiel treiben, und unter einem Stein fand er einen Krebs, den er einige Meter weit stromabwärts verfolgte, bis er unter einem anderen Stein verschwand. In den Binsen über ein paar Miniaturstromschnellen saß eine gelbgezeichnete Spinne in einem großen Netz, und plötzlich fiel ihm die Spinne in der Baracke zu Cape Cod wieder ein, die Spinne, mit der er in jenem Sommer vor dem College gesprochen hatte. Kurz erwog er die Möglichkeit, auch jetzt mit der Spinne zu sprechen, aber die traurige Wahrheit war, daß er sich zu alt dafür fühlte; vielleicht lag es aber auch nur daran, daß er und diese Spinne einander nichts zu sagen hatten.
»He«, rief eine Stimme vom andern Ufer ihn an.
Ein Mann stand auf der Böschung und sah zu Michael herunter, der nicht wußte, wie lange er von seinem Gegenüber schon beobachtet worden war. »Hello«, sagte Michael.
Der Mann trug die Arbeitskluft eines Bauern: abgetragene blaue Arbeitshosen, milchbespritzte Schuhe und ein verschwitztes blaues Hemd. Die Bartstoppeln auf seinen Wangen waren vom selben Grau wie der zerknitterte, bandlose Hut, der ihm etwas zu groß war, so daß die Krempe fast auf seinen Ohren aufsaß. »Das ist Privatgrund«, sagte der Mann.
»Ach so«, erwiderte Michael. »Ich habe keine Tafeln gesehen.« »Pech für Sie. Es gibt aber Tafeln. Fischen und Jagen ist hier verboten.«
»Ich habe nicht gejagt oder gefischt«, sagte Michael.
»Machen Sie, daß Sie mit Ihren dreckigen Füßen aus meinem Bach rauskommen, oder ich laß die Hunde los«, sagte der Bauer. »Die Sorte kenn ich. Kein Respekt vor fremdem Eigentum. Was, zum Teufel, treiben Sie da überhaupt? Watet im Bach herum mit aufgekrempelten Hosen wie ein Vierjähriger! «
»Ich bin in den Wald gegangen«, sagte Michael, »weil ich mit mir zu Rat gehen wollte, weil ich den wesentlichen Dingen des Lebens gegenüberstehen und versuchen wollte, etwas von ihnen zu lernen, um nicht einmal, angesichts des Todes, entdecken zu müssen, daß ich nicht gelebt habe.« Er watete ans Ufer und hielt nahe dem Bauern an, um sich die Füße sehr bedächtig mit seinem Taschentuch zu trocknen, das zum Glück sauber war. Dann zog er Socken und Schuhe wieder an und rollte die völlig zerdrückten Hosenbeine herunter. Auf dem Rückweg durch den Wald meditierte er über Thoreau und die Antwort, die jener dem Bauern wohl gegeben hätte, und als er etwa die halbe Strecke zur Straße zurückgelegt hatte, begann es zu regnen. Er ging weiter, aber bald, als der Baumbestand schütter und der Regen heftiger wurde, begann er zu laufen. Er war schon lange nicht mehr gelaufen, und obwohl seine Atemtechnik nicht die beste war und er bald keuchte, hielt er es durch, bis der Wald hinter ihm lag und er fast gegen ein großes Schild gerannt wäre, mit dem ein gewisser Joseph A. Wentworth der Welt mitteilte, daß dieses Land sein Besitz sei und widerrechtliches Betreten gesetzlich verfolgt werde. Als Michael endlich zu seinem Wagen kam, war er außer Atem und naß bis auf die Haut; er verspürte Seitenstechen und ein leichtes Zittern in der Magengrube und hatte das merkwürdige Gefühl, gerade noch mit heiler Haut davongekommen zu sein.
Drei Tage später nahmen Leslie und er an einem Seminar der Universität von Pennsylvania teil. Zu dem Kolloquium, dessen Thema
»Religion im Atomzeitalter« lautete, hatten sich Theologen, Naturwissenschaftler und Philosophen in einer Atmosphäre vorsichtiger interdisziplinärer Kollegialität zusammengefunden, die kaum eine Antwort auf die angesichts der Kernspaltung so dringlich gewordenen moralischen Fragen zeitigte. Max war in der Obhut einer Studentin zurückgeblieben, die sich bereit erklärt hatte, bei den Kinds zu übernachten; so hatten sie es nicht eilig, nach Hause zu kommen, und nahmen nach dem Seminar die Einladung eines Rabbiners aus Philadelphia an, in seinem Haus noch Kaffee zu trinken.
Es war gegen zwei Uhr morgens, als sie sich im Wagen Wyndham näherten.
Leslie hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen, und Michael war der Meinung gewesen, sie schliefe, aber plötzlich sagte sie:
»Es ist, als wären alle Menschen plötzlich in der Situation der Juden.
Nur haben wir jetzt alle statt der Gaskammern die Bombe vor Augen.«
Er dachte darüber nach, aber ohne zu antworten. Er fuhr langsam und versuchte schließlich, nicht mehr daran zu denken und die Frage zu vergessen, ob Gott auch dann noch dasein könnte, wenn sich die Welt plötzlich in Atomnebel auflöste. Die Nacht war mild, und der Augustmond hing rötlich wie eine Karottenscheibe tief am Himmel. Sie fühlten sich schweigend einander nahe, und nach einer Weile begann sie vor sich hin zu summen. Er hatte keine Lust, nach Hause zu fahren.
»Magst du den Baugrund sehen?« fragte er. »Ja«, sagte sie und richtete sich interessiert auf. Die Straße, anfangs geteert, wand sich hügelaufwärts, wurde dann auf halber Höhe zu einer schmalen Schotterstraße und endete kurz vor dem Tempelgrundstück. Michael fuhr, soweit es möglich war; schließlich kamen sie an einem Haus vorbei, in dem eine Nachttischlampe aufflammte und wieder erlosch, nachdem der Wagen vorbeigeholpert war.
Leslie lachte mit bitterem Unterton. »Die müssen uns für ein Liebespaar halten«, sagte sie.
Michael parkte den Wagen am Ende der Straße. Sie gingen an einem Zaun und an einem schattenhaften Holzstapel vorbei, dann standen sie auf dem Tempelgrund. Es war mondhell, aber der Boden war uneben und schlüpfrig von den Blättern vieler vergangener Jahre; Leslie mußte ihre Schuhe ausziehen, Michael verstaute je einen in jeder Jackentasche und reichte seiner Frau die Hand.
Allmählich konnten sie einen Fußpfad erkennen, und dem folgten sie langsam, bis sie den Gipfel der Anhöhe erreichten. Er hob sie auf einen Felsblock, und da stand sie, die Hand auf seine Schulter gestützt, und schaute hinunter auf die schwarze, vom Mond mit weißen Lichtflecken gesprenkelte Landschaft, die aussah wie die Landschaft in einem guten Traum. Leslie schwieg, aber der Druck ihrer Hand auf seiner Schulter verstärkte sich, bis es schmerzte, und zum erstenmal seit Monaten war sie für ihn wieder eine Frau, die er begehrte.
Er hob sie vom Felsen, küßte sie und fühlte sich jung, als sie seinen Kuß erwiderte, bis sie merkte, worauf er aus war, und ihn fast gewaltsam von sich schob.
»Du Narr«, sagte sie, »wir sind keine jugendlichen, die es notwendig haben, mitten in der Nacht in den Wald zu laufen. Ich bin deine Frau, und wir haben ein großes Messingbett zu Haus und Platz genug, uns nackt drauf herumzuwälzen, wenn es das ist, was du willst. Führ mich heim.«
Aber das war es nicht, was er wollte. Er kämpfte mit ihr, lächelnd zuerst, doch dann plötzlich im Ernst, bis sie alle Gegenwehr aufgab, sein Gesicht zwischen ihre Hände nahm und ihn küßte wie eine Braut; sie hielt nur inne, um ihn flüsternd an die Leute im Haus zu erinnern -
eine Mahnung, die Michael nicht mehr kümmerte.
Sie schickte sich an, zu tun, was Dr. Reisman ihr aufgetragen hatte, aber er wehrte heftig ab. »Diesmal handelt sich's nicht um ein Kind, sondern zur Abwechslung um dich und mich«, sagte er, und sie legten sich im Schatten des Felsens auf die raschelnden dürren Blätter und ergaben sich der Lust wie die Tiere der Wildnis, und dann war sie endlich wieder seine Geliebte, sein Kind und seine Braut, das strahlende Mädchen, für das er den großen Fisch gefangen hatte.