Michael grinste. »Dein Vorgänger, alew haschalom, hat mir einmal beinahe dasselbe gesagt. Er hat es nur ein wenig anders formuliert:
>Ich hab einen lausigen Posten für Sie.< « Und sie lachten beide.
»Es handelt sich um eine Gemeinde, die sich soeben erst durch Stimmenmehrheit als reformiert erklärt hat«, sagte Greenfield. »Nach einer Art Bürgerkrieg.«
»Und wie steht es jetzt um den Frieden?«
»Fast ein Drittel der Mitglieder ist orthodox. Du würdest zusätzlich zu deinen gewohnten Pflichten wahrscheinlich noch täglich schachriss, minche und majriw zu sprechen haben. Du müßtest ein Rabbiner für die Frommen u n d für die Liberalen sein.«
»Ich glaube, das wäre was für mich«, sagte Michael.
Das Wochenende darauf flog er nach Massachusetts, und zwei Wochen später fuhr er mit Leslie und den Kindern nach Woodborough, Rachel in ihrer Tragtasche und Max im Rücksitz verstaut. Sie fanden das große alte viktorianische Haus, das aussah, als spuke dort Hawthornes Geist, ein Haus mit eulenklugen Fensteraugen und einem Apfelbaum vor der Hintertür. Der Baum hatte ein paar abgestorbene Zweige, die abgeschnitten gehörten, und für Max gab es eine Schaukel, aus einem abgefahrenen Autoreifen gefertigt, der an dicken Seilen von einem hohen Ast hing.
Am besten aber gefiel ihm der Tempel. Beth Sholom war alt und nicht sehr geräumig. Da war kein Chagall und kein Lipchitz, wohl aber ein Geruch nach Bodenwachs und abgegriffenen Gebetbüchern und trockenem Holz und nach all den vielen Menschen, die hier im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren Gott gesucht hatten.
Viertes Buch. Das Gelobte Land
Woodborough, Massachusetts Dezember 1964
An die Vereinigung der Absolventen von Columbia College, 116th Street and Broadway
New York, New York 10027 Gentlemen,
nachfolgend übermittle ich Ihnen meinen autobiographischen Beitrag zum Gedenkbuch anläßlich der Fünfundzwanzig-Jahr-Feier des Jahrgangs 1941.
Ich kann es kaum glauben, daß fast fünfundzwanzig Jahre vergangen sind, seit wir Morningside Heights verlassen haben. Ich bin Rabbiner. Als solcher habe ich in reformierten Gemeinden in Florida, Arkansas, Kalifornien und Pennsylvania gearbeitet. Jetzt lebe ich in Woodborough, Massachusetts, mit meiner Frau Leslie, geb. Rawlings (Wellesley, 1946) aus Hartford, Connecticut, und unseren Kindern Max (16) und Rachel (8).
Ich sehe dem Zusammentreffen anläßlich unseres
fünfundzwanzigjährigen Jubiläums mit freudiger Erwartung entgegen. Die Gegenwart stellt so viele Anforderungen an uns, daß wir nur allzu selten Gelegenheit haben, auf die Vergangenheit zurückzublicken. Und doch ist es die Vergangenheit, die uns in die Zukunft geleitet. Als Geistlicher einer fast sechs Jahrtausende alten Religion bin ich mir dessen in zunehmendem Maße bewußt.
Ich habe die Erfahrung gemacht, daß der Glaube nicht nur kein Anachronismus ist, sondern daß ihn der moderne Mensch dringender braucht als je, um tastend seinen Weg ins Morgen zu suchen.
Ich für meine Person bin Gott dankbar dafür, daß er uns die Gelegenheit zum Suchen gegeben hat. Ich verfolge mit angstvoller Sorge die Feuerzeichen am Himmel, wie Sie es sicherlich auch tun; ich habe kürzlich das Rauchen aufgegeben und mir einen Bauch zugelegt; in letzter Zeit habe ich die Bemerkung gemacht, daß viele erwachsene Männer mich mit Sir anreden.
Aber im tiefsten vertraue ich darauf, daß uns die Bombe erspart bleiben wird. Ich habe auch nicht das Gefühl, daß der Krebs mich befallen wird, zumindest nicht, ehe ich wirklich alt geworden bin; mit fünfundvierzig ist man ja heutzutage fast noch ein Kind. Und wer will schon gertenschlank bleiben? Besteht unsere Gesellschaft denn aus lauter Beachboys?
Genug gepredigt - auf zu den Drinks: ich verspreche, bei unserem Treffen nur den Mund aufzumachen, um etwas zu trinken zu verlangen oder um einzustimmen in das Absingen von » Who Owns New York?«.
Ihr Jahrgangskollege Rabbi Michael Kind Tempel Beth Scholom Woodborough, Massachusetts
Er war schließlich eingeschlafen, den Kopf in den Armen, war, komplett angekleidet, über seinem Schreibtisch zusammengesunken.
Das Telephon schwieg die ganze Nacht lang. Es läutete erst am Morgen, um 6 Uhr 36. »Wir haben noch immer nichts von ihr gesehen«, sagte Dr. Bernstein.
»Ich auch nicht.« Der Morgen war kalt, die Radiatoren ächzten und klirrten unter der morgendlich verstärkten Feuerung, und Michael dachte daran, Dan zu fragen, wie Leslie bekleidet gewesen und ob sie auch hinlänglich gegen die Kälte geschützt sei.
Ihr blauer Wintermantel samt Handschuhen, Stiefeln und Kopftuch seien mit ihr verschwunden, sagte Dan. Nach dieser Mitteilung war es Michael ein wenig wohler: wer so vernünftig handelte, würde sich wohl kaum wie eine Desdemona im Schnee aufführen. »Wir bleiben in Verbindung«, sagte Dr. Bernstein.
»Ich bitte Sie darum.«
Er war steif und übernächtig nach der im Sessel verbrachten Nacht; so duschte er lange, kleidete sich dann an, weckte die Kinder und kümmerte sich darum, daß sie rechtzeitig zur Schule fertig wurden.
»Kommst du heute abend zu unserer Schulveranstaltung?« fragte Rachel. »Jede Klasse kriegt zwei Punkte für Väter. Mein Name steht auf dem Programm.«
»Ja? Was machst du denn?«
»Wenn du's wissen willst, dann komm, und du wirst sehen.« »In Ordnung«, versprach er.
Er fuhr zum Tempel, früh genug, um mit dem minjen den kadisch zu sagen. Dann schloß er sich in sein Arbeitszimmer ein und bereitete eine Predigt vor. Er sorgte für Beschäftigung. Kurz vor elf rief Dan ihn wieder an.
»Die Staatspolizei hat festgestellt, daß sie die Nacht in der YWCA verbracht hat. Sie hat das Anmeldeformular mit ihrem Namen unterschrieben.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Der Detektiv sagt, daß sie YWCA früh am Morgen verlassen hat.«
Möglich, daß sie nach Hause gegangen ist, dachte Michael; daß sie jetzt zu Hause ist. Die Kinder waren in der Schule, und Anna kam erst gegen Abend, wenn es Zeit war, das Essen zu kochen. Er dankte Dan, hängte ab und sagte seiner Sekretärin, er werde den Rest des Tages zu Hause arbeiten.
Doch als er sein Büro verließ, läutete eben das Telephon, und einen Augenblick später kam die Sekretärin ihm nachgelaufen. »Ein Telegramm, Rabbi«, sagte sie.
MICHAEL MEIN LIEBER ICH VERREISE FÜR EIN PAAR
TAGE ALLEIN. BITTE MACH DIR KEINE SORGEN. ICH
LIEBE DICH. LESLIE
Er ging dennoch nach Hause, saß in der stillen Küche, trank Kaffee und dachte nach.
Woher wollte sie das Geld zum Verreisen nehmen, wovon wollte sie leben? Er trug ihr Bankbuch in der Tasche. Soweit ihm bekannt war, hatte sie nur ein paar Dollar bei sich.
Während er noch an dieser Frage herumnagte wie ein Hund an einem Knochen, läutete das Telephon, und als das Fernamt sich meldete, begann er zu beten. Aber dann erkannte er zwischen dem Krachen und Rauschen der Nebengeräusche die Stimme seines Vaters.
»Michael?« sagte Abe.
»Hallo, Pop? Ich hör dich kaum.«
»Ich hör dich gut«, sagte Abe vorwurfsvoll. »Soll ich beim Amt reklamieren?«
»Nein, jetzt hör ich dich. Was gibt's Neues bei dir in Atlantic City?«
»Ich werde lauter sprechen«, brüllte Abe. »Ich bin nicht in Atlantic City.
Ich bin -« Wieder das Rauschen atmosphärischer Störungen.
»Hallo?«
»Miami. Ich habe mich ganz plötzlich entschlossen und rufe dich an, damit du Bescheid weißt und dir keine Sorgen machst. Ich wohne 12