»Nachher wird's keinen mehr geben. Der Kaplan kommt.« Lächelnd ging er durch die fast menschenleere Abteilung. Alles war so bedrückend sauber; das Ergebnis rastlosen Bemühens ... In Zimmer siebzehn lag eine Frau auf dem Bett.
Ihr Haar hob sich schwarz und wirr von dem weißen Kissen ab.
Mein Gott, dachte er, die sieht meiner Schwester Ruthie ähnlich.
»Mrs. Birnbaum?« sagte er und lächelte. »Ich bin Rabbi Kind.« Ein schneller Blick aus den großen blauen Augen traf ihn sekundenlang und wandte sich dann wieder zur Zimmerdecke.
»Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
»Gehen Sie, bitte«, sagte sie. »Ich wünsche niemanden zu belästigen.«
»Ist schon gut, ich bleibe nicht, wenn Sie es nicht wollen. Ich mache regelmäßig die Runde durch die Abteilung. Ich werde nächstens wieder vorbeikommen.«
»Morty hat Sie hergeschickt«, sagte sie. »Aber nein, ich kenne ihn nicht einmal.« »Sagen Sie ihm, er soll mich in RU-HE LAS-SEN! «
Nicht schreien, dachte er, ich bin hilflos gegen Schreien. »Ich komme bald wieder, Mrs. Birnbaum«, sagte er. Ihre Beine und Füße waren bloß, und es war kalt im Zimmer. Er griff nach der grauen Decke am Fußende des Bettes und deckte die Frau damit zu, aber Mrs.
Birnbaum begann zu strampeln wie ein ungezogenes Kind. Eilends verließ er den Raum.
Leslies Zimmer lag am anderen Ende des Korridors, um die Ecke. Er legte die Bücher auf ihr Bett, riß eine Seite aus seinem Notizbuch und schrieb darauf: »Ich komme nochmals am Nachmittag. Du warst in der Arbeitstherapie. Hoffentlich machst du dort was Brauchbares -
zum Beispiel Männersocken ohne Löcher.«
Auf dem Rückweg warf er einen Blick in Maggies Büro, um sich von ihr zu verabschieden. Aber die Oberschwester war nicht da. Aus dem Wasserkessel strömte Dampf und erzeugte einen nassen Fleck an der Decke. Michael zog den Stecker heraus, überlegte, daß er noch Zeit hatte, und goß Wasser in eine der Tassen.
Während er langsam seinen Kaffee trank, notierte er: ZU ERLEDIGEN: Woodborough General Hosp. Susan Wreshinsky, Entbindungsabtlg. (Bub, Mdch.?) Maseltow wünschen.
Lois Gurwitz (Enkln. v. Mrs. Leibling), Apndx. Jerry Mendelsohn, Beinamp. Bibliothek Bialik Biogr. bestellen Mikrofilm NY Times, jüdische Wachen in Wohnvierteln mit Rassenunruhen, für Predigt.
Er sah den Namen seiner Frau auf einem der Ordner im Aktenschrank, und unwillkürlich griffen seine Hände nach dem Faszikel. Er zögerte nur kurz, bevor er ihn öffnete. Während er die Papiere durchblätterte, nahm er noch einen Schluck Kaffee und begann dann zu lesen.
Woodborough State Hospital Patientin: Mrs. Leslie (Rawlings) Kind Falldarstellung, vorgetragen bei Mitarbeiterbesprechung am 21. Dezember 1964
Diagnose: Involutionsmelancholie
Patientin ist attraktiv und gut aussehend, Weiße, vierzig Jahre alt, in guter körperlicher Verfassung.
Haar: dunkelblond; Größe: 1,68 m; Gewicht: 64 kg.
Sie wurde am 28. August 1964 von ihrem Gatten ins Spital gebracht.
Präpsychotische Symptomatik: »neurasthenischer« Zustand, Pat. klagte darüber, daß ihr alles zuviel werde, daß sie körperlich und geistig schnell ermüde, reizbar und unruhig sei und unter Schlaflosigkeit leide.
Während der ersten elf Wochen in der Anstalt blieb Pat. stumm. Oft sah es aus, als wolle sie weinen, sei aber unfähig, sich diese Erleichterung zu verschaffen.
Nach dem zweiten Elektroschock - Pat. erhielt bis zum heutigen Datum neun von den verordneten zwölf Schocks - kehrte die Sprache wieder. Thorazine scheint gute symptomlindernde Wirkung zu haben, wurde nun aber ersetzt durch Pyrrolazote in allmählich steigender Dosierung bis zu 200 mg. q. i. d.
Keine nennenswerte Amnesie nach der Schockbehandlung. Pat.
berichtet ihrem Psychiater im Laufe der vergangenen Woche, sie erinnere sich, geschwiegen zu haben, weil sie niemandem ihre Schuldgefühle anvertrauen wollte, die sich aus der Entfremdung von ihrem Vater herleiteten sowie aus dem Gefühl, wegen einer zwei Jahrzehnte zurückliegenden vorehelichen Sexualerfahrung als Collegestudentin nun eine schlechte Frau und Mutter zu sein. Pat. hat dieses Erlebnis ihrem jetzigen Gatten vor ihrer Heirat mitgeteilt und kann sich nicht erinnern, sich je wieder damit beschäftigt oder auch nur daran gedacht zu haben - bis es ihr vor einigen Monaten plötzlich wieder in den Sinn kam. Sie erinnert sich jetzt deutlich an die ihrer Erkrankung vorausgehenden Schuldgefühle wegen jener frühen Sexualbeziehung und des Verlustes der väterlichen Liebe, doch scheinen sie diese Gefühle nicht länger zu quälen. Sie macht jetzt einen ruhigen und optimistischen Eindruck.
Die sexuellen Beziehungen zu ihrem Gatten schildert Pat. als gut. Die Menstruation ist seit fast einem Jahr unregelmäßig. Bei der gegenwärtigen Erkrankung handelt es sich offensichtlich um einen agitierten wahnhaften Depressionszustand der beginnenden Wechseljahre.
Pat. ist die Tochter eines Congregationalisten-Geistlichen und trat, ehe sie vor achtzehn Jahren ihren jetzigen Gatten, einen Rabbiner, heiratete, zum Judentum über. Sie scheint der jüdischen Religion zutiefst verbunden zu sein; Gegenstand ihrer Schuldgefühle ist nicht ihr Austritt aus dem Christentum, sondern ihr Verhalten dem Vater gegenüber, das sie als Verrat an ihm erlebt hat. Im Elternhaus der Patientin spielte die Lehre der Bibel eine entscheidende Rolle; seit ihrer Heirat widmete sich Pat. dem Studium des Talmud und genießt, nach Aussage ihres Gatten, die Freundschaft und Bewunderung anerkannter Autoritäten rabbinischer Schulen.
Mr. Kind scheint als Geistlicher etwas strenge Vorstellungen hinsichtlich des Verhaltens seiner Gemeinde zu haben; als Folge davon führte die Familie ein ziemlich unstetes Wanderleben. Dies bedeutete offensichtlich eine gewisse emotionale Belastung für beide Ehepartner.
Trotzdem ist die Prognose des Falles gut.
Ich empfehle, nach dem zwölften Elektroschock die Entlassung der Patientin aus der Anstaltspflege in Betracht zu ziehen. Fortsetzung der psychotherapeutischen Behandlung der Patientin durch einen Psychiater, wenn möglich auch eine stützende Therapie für den Gatten wären angezeigt.
(Unterschrift) Daniel L. Bernstein, M.D. Chef-Psychiater Michael wollte sich soeben dem nächsten Bericht zuwenden, als er Maggie bemerkte, die in der Tür stand und ihm zusah.
»Sie gehen wie auf Gummisohlen«, sagte er.
Schwerfällig trat sie zu ihrem Schreibtisch, nahm Michael Leslies Krankengeschichte aus den Händen und stellte sie zurück. »Sie könnten vernünftiger sein, Rabbi. Wenn Sie wissen wollen, wie es Ihrer Frau geht, fragen Sie ihren Psychiater.«
»Sie haben recht, Maggie«, sagte er. Sie erwiderte seinen Gruß mit stummem Nicken. Er steckte seine Notizen ein und verließ das Büro.
Eilig schritt er durch den hallenden, allzu sauberen Korridor.
Der Brief kam vier Tage später.
Mein Michael, wenn Du nächstens in Dein Büro im Spital kommst, wirst Du merken, daß die Kabbala von Deinem Schreibtisch fehlt. Ich habe Dr. Bernstein dazu überredet, seinen Universalschlüssel zu verwenden und mir das Buch zu holen. So hat er zwar für mich gestohlen, aber die Idee kam von mir. Der gute Max Gross hat immer darauf bestanden, daß sich kein Mann vor seinem vierzigsten Lebensjahr mit der kabbalistischen Mystik beschäftigen sollte. Er wäre entsetzt, wenn er wüßte, daß ich mich nun schon seit zehn Jahren damit herumplage - und ich bin doch nur eine Frau!
Ich gehe regelmäßig zu meinen Sitzungen bei Dr. Bernstein; »Psycho-Schmonzes« hast Du das früher gern genannt. Ich fürchte, ich werde nie wieder so selbstzufrieden sein, daß ich mich über Psychotherapie lustig machen könnte. Merkwürdig, ich erinnere mich an fast alles aus der Zeit der Krankheit, und ich wünsche sehr, Dir davon zu erzählen. Am leichtesten ist es, glaube ich, das in einem Brief zu tun - nicht, weil ich Dich zuwenig liebe, um diese Dinge mit Dir zu besprechen, während ich Dir in die Augen sehe, sondern weil ich so feig bin, daß ich vielleicht nicht alles sagen würde, was notwendig ist.