So schreibe ich es eben, jetzt gleich, bevor ich den Mut verliere. Du weißt nur zu gut, daß ich schon seit ungefähr einem Jahr nicht mehr in Ordnung war. Aber Du kannst nicht wissen - weil ich es Dir nicht sagen konnte -, daß ich in dem letzten Monat, bevor Du mich ins Spital brachtest, kaum mehr geschlafen habe. Ich hatte Angst vor dem Schlaf, Angst vor zwei Träumen, die immer wiederkehrten; es war wie die Fahrt durch ein Geisterschloß in einem verrückten Vergnügungspark - man fährt wieder und wieder und kann nicht herauskommen.
Der erste Traum spielte im Wohnzimmer des alten Pfarrhauses in der Elm Street in Hartford. Ich sah jede Einzelheit so deutlich wie auf einem Fernsehschirm: das behäbige abgenützte rote Plüschsofa und die dazu passenden Fauteuils mit den zerschlissenen Polsterschonern, die Mrs.
Payson alljährlich regelmäßig und beharrlich erneuerte; den fadenscheinigen Orientteppich und den polierten Mahagonitisch mit den zwei Kanarienvögeln aus Porzellan unter ihren Glasstürzen; an der Wand die handkolorierte Photographie - ein müder kleiner Bach, der sich spielerisch durch eine senffarbene Wiese schlängelt-, ein gerahmter Strauß künstlicher Blumen, von meiner Großmutter aus den Locken gefertigt, die von meinem ersten Haarschnitt abgefallen waren, und, über dem mächtigen Marmorkamin, in dem nie ein Feuer brannte, ein gestickter Spruch:
Des Hauses Schönheit ist Ordnung Des Hauses Segen ist Zufriedenheit Des Hauses Stolz ist Gastlichkeit Des Hauses Krone ist Frömmigkeit Es war der häßlichste Raum, der je von gottesfürchtigen, aber geizigen Pfarrersleuten eingerichtet worden ist.
Und ich sah auch die Menschen.
Meine Tante Sally, dünn und grauhaarig und verbraucht von der Mühe, sich nach dem Tod meiner Mutter um uns zu kümmern und so voll von Liebe für den Mann ihrer toten Schwester, daß alle es wußten, nur er nicht, die Arme.
Und mein Vater. Sein Haar war auch damals schon weiß, und er hatte die glattesten rosigen Backen, die ich je bei einem Mann gesehen habe.
Ich kann mich nicht erinnern, daß er je so ausgeschaut hatte, als hätte er eine Rasur nötig. Ich sah auch seine Augen im Traum, hellblau, mit einem Blick, der tief in einen eindrang, bis zu der Lüge, die man im geheimsten Gedanken verbarg.
Und ich sah auch mich, zwölfjährig vielleicht, mit langen Zöpfen, dünn und eckig, mit Metallrandbrille auf der Nase, denn ich war kurzsichtig bis zu meinem Eintritt in die High School.
Und jedesmal stand mein Vater im Traum vor dem Kamin, sah mir in die Augen und sprach die Worte, die er wohl vielhundertmal am Samstag nach dem Abendessen in diesem häßlichen Zimmer zu uns gesprochen hat:
»Wir glauben an Gott, den Vater, unendlich an Weisheit, Güte und Liebe, und an Jesus Christus, seinen Sohn, unsern Herrn und Heiland, der für uns und unsere Erlösung lebte und starb und wieder auferstand zum ewigen Leben, und an den Heiligen Geist, der uns geoffenbaret ward, zu erneuern, zu trösten und zu erleuchten die Seelen der Menschen.«
Dann wurde es schwarz in meinem Traum, als wäre mein Vater ein TV-Prediger, der ausgeblendet wird, weil jetzt die Reklamen kommen, und ich erwachte in unserem Bett und spürte das Prickeln und die Gänsehaut am ganzen Körper, wie ich sie als Kind immer gespürt hatte, wenn mein Vater mir in die Augen sah und davon sprach, wie Jesus für mich gestorben sei.
Anfangs machte ich mir keine Gedanken über den Traum. Man träumt eben alles mögliche, alle Menschen tun das. Aber der Traum wiederholte sich alle paar Nächte: immer derselbe Raum, dieselben Worte, gesprochen von meinem Vater, der mir in die Augen sah.
Er erschütterte mich nicht in meinem jüdischen Glauben. Das war für mich schon lange bereinigt. Ich bin Deinetwegen übergetreten, aber ich gehörte zu den Glücklichen, die mehr fanden, als sie erwartet hatten. Über all das brauchen wir nicht mehr zu reden.
Aber ich begann darüber nachzudenken, was es wohl für meinen Vater bedeutet haben mußte, als ich verwarf, was er mich gelehrt hatte, und Jüdin wurde. Ich dachte darüber nach, was es für Dich bedeuten würde, käme eines von unseren Kindern zu dem Entschluß, zu konvertieren, katholisch zu werden zum Beispiel.
Dann lag ich da und starrte zur finsteren Zimmerdecke hinauf, und ich dachte daran, daß mein Vater und ich einander völlig fremd geworden waren. Und ich dachte daran, wie sehr ich ihn als kleines Mädchen geliebt hatte.
Dieser Traum kam lange Zeit hindurch wieder, aber dann tauchte ein anderer auf. In dem zweiten Traum war ich zwanzig Jahre alt; ich saß in einem Wagen mit Schiebedach, der an einer dunklen Nebenstraße in der Gegend von Wellesley Campus geparkt war, und ich hatte nichts an.
Alle Einzelheiten und Eindrücke waren ebenso deutlich wie in dem ersten Traum. An den. Familiennamen des Jungen konnte ich mich nicht erinnern - sein Vorname war Roger-, aber ich sah sein Gesicht: erregt, jung und ein wenig erschrocken. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt und trug ein blaues Leverett-House-Fußballeibchen mit der weißen Nummer 42. Seine Tennisshorts und seine Unterwäsche lagen auf einem Haufen mit meinen Kleidern auf dem Boden des Wagens. Ich betrachtete ihn äußerst interessiert: nie zuvor hatte ich einen nackten Männerkörper gesehen. Ich empfand weder Liebe noch Verlangen, nicht einmal Zuneigung. Dennoch hatte es keiner Überredung bedurft, als er den Wagen hier im Dunkeln parkte und mich auszuziehen begann - und der Grund dafür waren meine große Neugier und die Überzeugung, daß es Dinge gebe, die ich wissen wollte. Als ich dann da lag, den Kopf an die Wagentür gepreßt und das Gesicht in die rissige Lederlehne des Sitzes, als ich spürte, wie der Junge mit mir beschäftigt war, mit demselben blöden Eifer, den er beim Fußballspiel zeigte, als ich spürte, wie es mich schmerzhaft aufriß wie eine Schote - da war meine Neugier befriedigt. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, und der Junge im Wagen gab einen Laut von sich, der wie ein Seufzer klang, und ich spürte, wie ich zu einem fühllosen Gefäß wurde. Ich konnte nichts tun, als dem fernen Bellen lauschen und dabei wissen, daß ich betrogen worden war, daß dies nichts war als ein trauriger Einbruch in mein privatestes Leben.
Wenn ich dann aufwachte in unserem dunklen Zimmer und mich wiederfand in unserem Bett neben Dir, dann hatte ich den Wunsch, Dich zu wecken und Dich um Verzeihung zu bitten, Dir zu sagen, daß das dumme Mädchen im Auto tot ist und daß die Frau, die ich geworden bin, niemanden in Liebe erkannt hat als Dich. Aber ich lag nur zitternd wach die ganze Nacht.
Diese Träume kamen immer wieder, manchmal der eine und manchmal der andere, sie kamen so häufig, daß sie sich mit meinem wachen Leben mischten und ich manchmal nicht mehr sagen konnte, was Traum war und was Wirklichkeit. Wenn mein Vater mir in die Augen schaute und von Gott und Jesus sprach, dann wußte ich, daß er die Ehebrecherin in mir sah, obwohl ich erst zwölf Jahre alt war, und ich wünschte mir den Tod. Einmal verzögerte sich die Menstruation um fünf Wochen, und an dem Nachmittag, als sie endlich einsetzte, sperrte ich mich im Badezimmer ein und saß auf dem Rand der Wanne, zitternd, weil ich nicht weinen konnte, und ich wußte nicht mehr, ob ich nun die Studentin war, die erleichtert aufatmete, oder eine dicke vierzigjährige Frau, die froh war, kein Kind zu kriegen, das nicht von Dir gewesen wäre. Tagsüber konnte ich Dir nicht mehr in die Augen sehen und ertrug es nicht, wenn die Kinder mich küßten. Und nachts lag ich erstarrt und kniff mich, um nicht einzuschlafen und zu träumen. Und dann hast Du mich ins Krankenhaus gebracht und mich allein gelassen, und ich wußte, daß es so war, wie es sein sollte: denn ich war schlecht und mußte eingesperrt und zum Tod verurteilt werden. Und ich wartete darauf, daß sie mich töten - bis die Schockbehandlung begann und die verschwommenen Umrisse meiner Welt wieder feste Kontur annahmen.
Dr. Bernstein riet mir, Dir von den Träumen zu erzählen, wenn ich es wirklich wolle. Er glaubt, daß sie mich dann nie mehr heimsuchen werden.