So fand der Trieb keine wirkliche Entspannung, und Michael wurde unruhig und nervös. Manchmal, wenn er noch spät in der Nacht lernte, ging er im Zimmer auf und ab. Friedmans, die das Apartment unter den Kinds bewohnten, beklagten sich schüchtern bei Dorothy.
So gewöhnte sich Michael daran, lange Spaziergänge zu unternehmen. Er durchstreifte die Umgebung des Campus, die Straßen von Manhattan und Queens. Eines Tages setzte er sich in die Hochbahn nach Brooklyn, ursprünglich mit der Absicht, in der altvertrauten Gegend von Borough Park auszusteigen; aber dann blieb er sitzen wie angeleimt, bis der Zug längst weitergefahren war, und erst in Bensonhurst stieg er aus und ging und ging durch Straßen mit alten, schäbigen Häusern. Gehen wurde für ihn zu einer Art Alkohol und er zum Säufer, der sich seinem geheimen Laster hingab, während seine Freunde schliefen oder Musik hörten oder studierten oder ein Mädchen zur Strecke zu bringen versuchten.
In einer Januarnacht verließ er die Butler-Bibliothek, wo er bis gegen zehn Uhr gelernt hatte, und machte sich auf den Weg zur Untergrundbahn. Schnee fiel in dicken weißen Flocken und hüllte die Welt ein. Wie im Traum ging Michael an der Untergrundstation vorbei. Im Verlauf von zehn Minuten hatte er sich verirrt, aber es machte ihm nichts aus. Er bog um eine Ecke in eine finstere schmale Gasse, kaum breiter als ein Hausdurchgang, mit baufälligen Wohnhäusern an beiden Seiten. Inmitten einer verlorenen Lichtinsel unter einer Straßenlaterne an der Ecke stand ein Polizist, groß und breitschultrig in seiner blauen Uniform, und hob das rauhe rote Gesicht aufwärts, dem fallenden Schnee entgegen. Er nickte Michael zu, als jener vorbeiging.
Auf halbem Wege zur nächsten Straßenecke hörte Michael schnelle leichte Schritte, die ihm folgten. Sein Herz begann zu hämmern, und er wandte sich um, ärgerlich über sich selbst, daß er so dumm gewesen war, nachts allein durch Manhattan zu gehen; der Mann schritt an ihm vorbei, schnell, aber so nahe, daß Michael ihn ausnehmen konnte: ein kleiner Mann mit großem Kopf, einem Bart, in dem Schnee hing, mit großer Nase und halbgeschlossenen Augen, die nichts sahen. Er trug den Mantel trotz der Kälte offen, die bloßen Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet, und er redete leise vor sich hin. Betete er? Es kam Michael vor, als hätte er Hebräisch gesprochen.
Schon nach wenigen Augenblicken konnte Michael ihn nicht mehr sehen. Er hörte den Überfall mehr, als er ihn sah: das Geräusch von Schlägen, den Grunzlaut entweichender Luft, wie sie ihn in den Magen hieben, das Klatschen von Fäusten.
»POLIZEI!« brüllte Michael. »POLIZEI!« Der Polizist, weit unten an der nächsten Straßenecke, begann zu laufen. Er war sehr dick und wälzte sich unendlich langsam heran. Michael wäre ihm am liebsten entgegengelaufen, um ihn an der Hand zu nehmen, aber dazu war keine Zeit. Er lief auf die Kämpfenden zu, stolperte beinahe über zwei von ihnen, die neben einem reglosen Körper knieten.
Der eine richtete sich schweigend auf und rannte in die Dunkelheit.
Der andere, Michael näher, tat noch einen Schritt auf ihn zu, ehe Michaels Faust die bartstoppelige Wange traf. Michael sah Augen voll Haß und Angst, eine zerschlagene Nase, einen verkniffenen Mund. Jung, schwarze Lederjacke. Lederhandschuhe. Als der Schlag seinen Mund traf, fühlte Michael sich beinahe erleichtert: kein Messer! Er trug Fergusons und Bruuns Survey of American Civilization in der Linken - ein Buch von mindestens vier Pfund. Er faßte es mit der Rechten und holte aus, so gut er konnte. Er traf präzis, und der Angreifer fiel in den Schnee. »Arschloch«, flüsterte er, fast schluchzend. Ein Stück weit kroch er auf allen vieren, dann sprang er auf und rannte davon.
Der kleine bärtige Mann auf dem Pflaster richtete sich auf. Sie hatten allen Atem aus ihm herausgeprügelt, und seine Lungen rasselten, als er die Luft einsog. Schließlich atmete er tief, grinste und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Lehrbuch. »Die Macht des gedruckten Wortes«, sagte er mit schwerem Akzent. Michael half ihm beim Aufstehen. Etwas Schwarzes lag im weißen Schnee: die jarmulka.
Sie war voll Schnee. Mit einer verlegenen Dankesgebärde stopfte der andere sie in die Manteltasche. »Ich habe gerade das schmma gesagt, das Abendgebet.«
»Ich weiß.«
Der Polizist kam keuchend heran. Michael erzählte ihm, was vorgefallen war, und schluckte dabei Blut, das aus seinen zerschlagenen Lippen quoll. Die drei gingen zurück zu der Lichtinsel unter der Straßenlaterne.
»Haben Sie ihre Gesichter ausnehmen können?« fragte der Polizist.
Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«
Michael hatte verschwommene Züge gesehen, von Erregung verzerrt.
Der Polizist fragte ihn, ob er die Täter aus einer Erkennungskartei herausfinden könnte. »Sicher nicht.«
Der Beamte seufzte. »Dann können wir die Geschichte ebensogut auf sich beruhen lassen. Die sind jetzt schon über alle Berge. Wahrscheinlich sind sie aus einem anderen Stadtviertel gekommen. Haben sie was erwischt?«
Der bärtige Mann hatte ein blaues Auge. Er griff in seine Hosentasche und zählte nach, was er zutage förderte: einen halben Dollar, einen Vierteldollar und zwei Cents. »Nein«, sagte er.
»Das ist alles, was Sie bei sich haben?« fragte der Polizist freundlich.
»Keine Brieftasche?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Die hätten Sie um ein Haar für Ihren letzten Cent erschlagen«, sagte der Polizist.
»Ich rufe ein Taxi«, sagte Michael. »Kann ich Sie mitnehmen?« »Aber nein, es ist ja nur zwei Gassen weit. Auf dem Broadway.« »Dann gehe ich mit Ihnen und nehme das Taxi dort.«
Sie bedankten sich bei dem Polizisten und gingen schweigend durch den Schnee, jeder seine Verletzung spürend. Schließlich hielt der Mann vor einem alten Ziegelbau mit einer unleserlichen Holztafel über dem Tor.
Er ergriff Michaels Hand. »Ich danke Ihnen. Ich heiße Gross, Max Gross. Rabbi Max Gross. Wollen Sie nicht noch zu mir kommen, auf eine Tasse Tee?«
Michael war neugierig, und so nannte er seinen Namen und nahm die Einladung an. Beim Eintreten stellte sich Rabbi Gross auf die Zehenspitzen, um eine hoch oben am Türrahmen angebrachte m'suse zu berühren, und küßte dann seine Fingerspitzen. Er zog die jarmulka hervor, die jetzt ganz durchweicht war von geschmolzenem Schnee, und setzte sie auf. Dann wies er auf einen Pappkarton, in dem noch eine Menge anderer Käppchen lagen. »Dies ist Gottes Haus.« Wäre dem so, dachte Michael, ein Käppchen aufsetzend, dann hätte Gott wohl eine Unterstützung nötig. Das Zimmer war klein und schmal, eigentlich mehr ein Vorraum als ein Zimmer; zehn Reihen hölzerner Klappsessel und ein Altar füllten es fast zur Gänze aus. Der Boden war mit abgescheuertem Linoleum belegt. In einem winzigen Nebenraum, der sich an der einen Seite anschloß, standen ein abgenützter Bürotisch und ein paar zerschrammte Rohrstühle. Gross zog seinen Mantel aus und warf ihn auf den Tisch. Darunter trug er einen zerknitterten marineblauen Anzug.
Ob sich unter dem Bart eine Krawatte befand, konnte Michael nicht feststellen. Obwohl der Rabbi einen sehr sauberen Eindruck machte, hatte Michael doch die Vorstellung, er würde dauernd schlecht rasiert herumgehen, hätte er keinen Bart.