Ein Dröhnen erschütterte das Gebäude und ließ die nackte gelbe Glühbirne an ihrem Kabel tanzen, so daß lange Schatten über die Decke huschten.
»Was ist denn das?« fragte Michael erschrocken.
»U-Bahn.« Über dem Ausguß des Waschbeckens füllte Gross einen verbeulten Aluminiumkessel mit Wasser und stellte ihn auf die Elektroplatte. Die Becher waren dickwandig und gesprungen. Gross färbte beide Tassen Wasser mit einem Teepäckchen, reichte Würfelzucker dazu. Er sagte die broche. Sie saßen auf den rohrgeflochtenen Stühlen und tranken schweigend ihren Tee.
Die bläulichen Male der Schläge im Gesicht des Rabbi wurden allmählich rot. Seine Augen waren groß und braun und von sanfter Unschuld, wie die Augen eines Kindes oder eines Tieres. Ein Heiliger oder ein Narr, dachte Michael.
»Leben Sie schon lange hier, Rabbi?«
Gross blies seinen Tee und dachte eine Weile nach. »Sechzehn Jahre. Ja, sechzehn.«
»Wie viele Mitglieder hat Ihre Gemeinde?«
»Nicht viele. Nur ein paar. Alte Männer zumeist.« Er saß einfach da und trank seinen Tee. Er schien nicht neugierig, was Michael betraf, stellte keine Fragen. Sie tranken ihren Tee aus, und Michael verabschiedete sich und zog seinen Mantel an. In der Tür wandte er sich nochmals um. Rabbi Gross bemerkte ihn offenbar nicht mehr. Er hatte seinem Gast den Rücken zugekehrt und wiegte sich und schaukelte beim abendlichen sch'mma, dort fortsetzend, wo er auf der Straße unterbrochen worden war: »Höre, Israel, der Herr unser Gott ist einig und einzig.« Die U-Bahn dröhnte. Das Gebäude erbebte. Die Glühbirne tanzte. Die Schatten huschten über die Decke. Michael ergriff die Flucht.
An einem Abend kurz vor Semesterschluß saß er in der Mensa mit einem Kollegen und einer Kollegin, einem Mädchen, das ihm gefiel, beim Kaffee. Alle drei plagten sich gerade ein wenig mit amerikanischer Philosophie. »Und was ist mit Orestes Brownson und seiner Enttäuschung über die Aufklärung?« fragte Edna Roth.
Mit flinker rosiger Zunge leckte sie ihre Fingerspitzen ab, die klebrig waren von Blätterteiggebäck.
»Mein Gott«, sagte er seufzend, »katholisch ist er geworden - das ist alles, was ich über ihn weiß.«
»Ich hab über deinen Vater nachgedacht«, sagte Chuck Farley aus heiterem Himmel. »Kleine Kapitalisten wie dein Vater sind die größten Feinde der Arbeiterschaft.«
»Mein Vater muß sich fast jede Woche den Kopf drüber zerbrechen, wie er seine Löhne ausbezahlt«, sagte Michael kurz. Farley kannte Abe Kind nicht. Ein paarmal hatte er nach Kind Foundations gefragt, und Michael hatte Antwort gegeben. »Die Gewerkschaft liegt ihm im Magen. Was hat das mit amerikanischer Philosophie zu tun?«
Farley zog die Augenbrauen hoch. »Alles«, sagte er. »Siehst du das nicht?« Farley war sehr häßlich, hatte eine große sommersprossige Nase und brandrote Haare, Wimpern und Brauen. Er trug eine achteckige randlose Brille und kleidete sich auffallend, aber nachlässig. Wenn er in der Vorlesung oder im Seminar das Wort ergriff, zog er regelmäßig eine goldene Uhr, groß wie ein Wagenrad, aus der Hosentasche und legte sie vor sich auf den Tisch. Michael trank häufig in der Mensa Kaffee mit ihm, weil Edna Roth immer in seiner Gesellschaft war.
Edna war ein freundliches dunkelhaariges Mädchen mit einem winzigen Muttermal auf der linken Wange und einer leicht vorspringenden Unterlippe, die Michael davon träumen ließ, seine Zähne daran zu versuchen. Sie neigte ein wenig zur Fülle, kleidete sich einfach und war weder hübsch noch häßlich; ihre braunen Augen zeigten einen Ausdruck von friedlichem Einverständnis mit ihrer Weiblichkeit; sie strömte eine angenehm animalische Wärme aus und einen zarten, verwirrenden Geruch wie nach Milch.
»Von jetzt an gibt's keine fröhlichen kleinen Saufereien mehr«, sagte sie, obgleich Michael noch nie mit ihnen auf Bartour gegangen war.
»Kein Schläfchen, keine Spielereien, keine Extravaganzen. Wir müssen noch eine Menge lernen für diese Prüfung.« Sie blinzelte Farley ängstlich an. Die Kurzsichtigkeit gab ihrem Gesicht einen träumerischen, ein wenig entrückten Ausdruck. »Wirst du auch genug Zeit zum Lernen haben, mein Schatz?«
Er nickte. »In der Eisenbahn.« Er fuhr regelmäßig nach Danbury, Connecticut, wo er mit half, einen Streik in der Hutindustrie zu organisieren. Edna hatte viel Verständnis für seine politische Tätigkeit. Sie war Witwe. Auch Seymour, ihr verstorbener Gatte, war Parteimitglied gewesen. Sie kannte sich aus mit Streiks. Farley berührte ihren üppigen Mund flüchtig mit seinen dünnen Lippen und verabschiedete sich. Michael und Edna tranken ihren Kaffee aus und begaben sich dann an ihre Arbeitsplätze im dritten Stock des Bibliotheksgebäudes; dort rangen sie bis zum Ende der Bibliotheksstunden mit Brownson und Theodore Parker, mit der transzendenten und der kosmischen Philosophie, den Radikalempiristen und den Calvinisten, mit Borden Parker Browne, Thoreau, Melville, Brook Farm, William Torrey Harris ...
Er rieb sich die brennenden Augen, als sie das Haus verließen. »Es ist einfach zu viel, zu viele Einzelheiten.«
»Ich weiß. Hast du Lust, noch zu mir zu kommen, mein Schatz? Wir könnten noch ein, zwei Stunden lernen.«
Sie fuhren mit der Untergrundbahn nach Washington Heights, wo Edna ein Apartment in einem alten Rohziegelbau bewohnte. Sie sperrte auf, und Michael erblickte zu seiner Verwunderung eine junge Negerin, die, neben dem Radio sitzend, ihre Mathematikaufgabe machte; sie packte ihre Hefte sofort zusammen, als die beiden eintraten.
»Wie geht's ihm, Martha?« fragte Edna. »Alles in Ordnung. Er ist ein süßer Junge.« Das Mädchen packte seine Schulsachen zusammen und verabschiedete sich. Michael folgte Edna in das kleine Schlafzimmer und beugte sich über das Kinderbett. Er war der Meinung gewesen, Seymour hätte ihr nichts hinterlassen als gerade genug Geld, daß sie ins Lehrerseminar zurückkehren konnte. Aber da gab es noch eine andere Hinterlassenschaft.
»Ein hübscher Kerl«, sagte Michael, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. »Wie alt ist er denn?«
»Danke. Vierzehn Monate. Er heißt Alan.« Sie ging in die Küche und kochte Kaffee. Michael sah sich im Zimmer um. Auf dem Kaminsims stand ein Bild. Ohne zu fragen wußte er, daß es den verstorbenen Seymour darstellte, einen recht gut aussehenden Mann mit lächerlichem Schnurrbart und angestrengtem Lächeln. Die Kolonialstil-Möbel konnten, wenn Edna Glück hatte, halten, bis sie zu unterrichten beginnen oder wieder heiraten würde. Zum Fenster hinausblickend, sah Michael den Fluß. Das Haus lag näher dem Broadway als dem Riverside Drive, aber die Stadt fällt zum Hudson steil ab, und die Wohnung befand sich im achten Stock. Die kleinen Lichter der Boote krochen langsam über das Wasser.
Sie tranken Kaffee in der winzigen Kitchenette, und dann lernten sie, ohne sich von ihren Plätzen zu rühren; nur sein Knie berührte ihren Schenkel. Noch keine vierzig Minuten waren vergangen, da war er mit seinem Pensum durch, und auch sie hatte ihr Buch geschlossen. Es war warm in der Küche. Er spürte wieder Ednas Duft, den zarten, aber deutlichen Milchgeruch.
»Jetzt muß ich wohl gehen.«
»Du kannst auch dableiben, wenn du magst, mein Schatz. Heute kannst du dableiben.«
Er rief zu Hause an, während sie die Kaffeetassen wegräumte. Seine Mutter war am Telephon, ihre Stimme klang verschlafen, und er sagte ihr, daß er noch lerne und bei einem Freund übernachten werde. Sie dankte ihm dafür, daß er sie angerufen hatte, so daß sie sich keine Sorgen machen mußte.
Das Schlafzimmer lag neben dem Kinderzimmer, und die Verbindungstür war offen. Einander den Rücken zuwendend, entkleideten sie sich im Schein des Nachtlichts, das nebenan bei dem Baby brannte. Er versuchte seine Zähne zart an ihrer Unterlippe, ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte. Im Bett, als er ihr ganz nahe war, machte sich der zarte Milchgeruch sehr kräftig bemerkbar. Er fragte sich, ob sie das Baby noch immer stillte. Aber ihre Brustwarzen waren trockene, harte kleine Knospen. Alles übrige war weich und warm, ohne Schrecken oder Überraschungen, ein sanftes Steigen und Fallen, wie das gleichmäßige Schaukeln einer Wiege. Sie war freundlich. Im Einschlafen spürte er, wie ihre Hand sein Haar streichelte.