Um vier Uhr begann das Baby zu schreien; der dünne, klagende Laut riß sie aus dem Schlaf. Edna zog ihren Arm unter Michaels Kopf hervor, sprang aus dem Bett und lief, die Flasche zu wärmen.
Nun er sie nackt sah, merkte er, daß ihre Hinterbacken groß und etwas hängend waren. Als sie die Flasche aus dem heißen Wasser nahm, fand auch das Geheimnis des Milchgeruchs seine Lösung: sie spritzte einen weißen Tropfen auf die zarte, empfindliche Haut in der Ellbogenbeuge. Zufrieden mit der Temperatur der Milch, steckte sie dem Kleinen den Sauger in den Mund. Das Weinen hörte auf.
Als sie wieder im Bett lag, beugte er sich über sie und küßte sie in die Ellbogenbeuge. Sie war noch feucht und warm von der Milch.
Mit der Zungenspitze fühlte er, wie weich ihre Haut war. Die Milch schmeckte süß. Edna seufzte. Ihre Hand suchte ihn. Diesmal war er seiner selbst sicherer und sie weniger mütterlich. Als sie dann schlief, erhob er sich vorsichtig, kleidete sich im Dunkel an und verließ die Wohnung. Drunten auf der Straße war es finster; Wind kam vom Fluß her. Michael klappte den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg. Er fühlte sich schwerelos und glücklich, befreit von der Last der Unschuld. »Endlich«, sagte er laut vor sich hin. Ein Junge, der auf seinem mit Paketen vollbeladenen Fahrrad vorbeifuhr, musterte ihn mit hellem, hartem Blick. Selbst um fünf Uhr am Morgen, wenn überall anders die Leute noch schliefen, war Manhattan wach. Menschen waren unterwegs, Taxis und Autos fuhren. Michael ging lange. Allmählich wurde es Tag. Plötzlich erkannte er eines der Häuser, an denen er vorüberging. Es war die kleine schäbige schul mit den von der Untergrundbahn geschüttelten Lampen, die Synagoge des Rabbi Max Gross.
Er trat dicht an das Tor heran und versuchte die fast nicht mehr leserliche Schrift auf der kleinen Holztafel zu entziffern. Im grauen Licht der Morgendämmerung schienen die verblaßten hebräischen Schriftzeichen sich zu drehen und zu krümmen, aber mit einiger Mühe gelang es ihm, sie zu entziffern. Scharaj Schomajim. Pforte des Himmels.
Mit vier Jahren, als er noch in der polnischen Stadt Worka lebte, konnte Max Gross Teile des Talmud lesen. Mit sieben, als sich die meisten seiner kleinen Freunde noch mit der Sprache und den Geschichten der Bibel plagten, war er schon tief in die Kompliziertheit des Gesetzes eingedrungen. Sein Vater, der Weinhändler Chaim Gross, war glücklich darüber, daß seine Kaufmannslenden einen ilui gezeugt hatten, ein Talmud-Genie, das Gottes Segen über die Seele Soreles bringen würde, seines verstorbenen Weibes, das die Grippe ins Paradies befördert hatte, als ihr Sohn noch nicht gehen konnte. Sobald Max lesen konnte, begleitete er seinen Vater, wenn dieser sich mit all den anderen Chassidim bei Rabbi Label, ihrem Lehrer, einfand. An jedem Sabbatabend hielt der Rabbi von Worka seine Tafelrunde. Die frommen Juden aßen früh zu Abend, wußten sie doch, daß ihr Lehrer sie erwartete. Sobald alle sich um den Tisch versammelt hatten, begann der alte Rabbi zu essen, reichte auch von Zeit zu Zeit einen Leckerbissen - ein Stückchen Huhn, ein saftiges Markbein oder einen Bissen Fisch - einem verdienstvollen Juden, der die Speise beseligt verzehrte, wissend, daß Gott berührt hatte, was aus den Händen des Rabbi kam. Und unter all den Erwachsenen saß Max, das Wunderkind, in seinem weißen Samtkaftan, dünn und großäugig, auch damals schon zu klein für sein Alter, mit ständig gerunzelter Stirn und an einer seiner Schläfenlocken ziehend, während er gespannt den Worten der Weisheit lauschte, die aus dem Munde des Rabbi kamen.
Aber Max war nicht nur ein Wunder, sondern auch ein Kind, und er genoß die Feste mit kindlicher Freude. Am Abend eines jeden Feiertags versammelten sich die Chassidim zu festlichem Mahl. Die Tische bogen sich unter Schüsseln voll nahit, Tellern voll Kuchen und kuglen und vielen Flaschen Schnaps. Die Frauen, als mindere Geschöpfe, nahmen an diesen Festen nicht teil. Die Männer aßen mäßig und tranken reichlich. Eingedenk der Lehre, daß alles Böse nur durch Freude, nicht aber durch Kümmernis überwunden werden kann, und sicher in dem Glauben, daß die Ekstase sie näher zu Gott brächte, öffneten sie ihre Herzen der Fröhlichkeit. Bald erhob sich einer der bärtigen Chassidim und winkte einem Gefährten. Sie legten einander die Hände auf die Schultern und begannen zu tanzen. Andere fanden sich zusammen, und bald war der Raum voll mit tanzenden bärtigen Paaren. Der Takt war schnell und sieghaft. Sie hatten keine Musik als ihren eigenen Gesang, der unaufhörlich ein und denselben Bibelvers wiederholte. Dann gab wohl einer der Männer Max im Scherz einen Schluck von dem feurigen Schnaps zu trinken, und einer, manchmal sogar der Rabbi selbst, holte den kleinen Jungen zum Tanz. Mit leichtem Kopf und unsicheren Füßen, herumgewirbelt von großen Händen, die ihn an den Schultern faßten, drehte sich Max in atemloser Lust durch den Raum, seine kleinen Füße flogen über den Boden und ahmten das Stampfen der Erwachsenen nach, während die tiefen Stimmen der bärtigen Männer den rhythmisch sich wiederholenden Chor summten: »W'tah-hair libanu l'awd'scho be-emess. - Mach rein unsre Herzen, auf daß sie Dir dienen in Wahrheit.«
Schon lange vor seiner bar-mizwe war Max zu einer Legende geworden. Tiefer und mit zunehmender Geschicklichkeit tauchte er in das unendliche Meer des Talmud, und immer häufiger geschah es, daß er am Tisch des Rabbi mit einem erlesenen Bissen ausgezeichnet wurde, oder daß seines Vaters Freunde ihn auf der Straße anhielten, um ihm den Rücken zu tätscheln oder seinen Kopf zu berühren. Als er acht Jahre alt war, nahm ihn sein Vater aus dem chejder, der Schule, die alle Jungen besuchten, und übergab ihn zur persönlichen Unterweisung dem Reb Yankel Cohen, einem tuberkulösen Gelehrten mit krankhaft glänzenden Augen. Für Max war es fast so, als studierte er allein. Er rezitierte Stunden und Stunden, während der hagere Mann neben ihm saß und ohne Ende in ein großes Tuch hustete. Sie redeten nicht miteinander.
Wenn Max sich mit müder Stimme in falsche Philosophie oder fehlerhafte Interpretationen verirrte, krallten sich die dürren Finger des Lehrers wie Zangen in seinen Arm; die blauroten Flecken waren noch eine Weile nach Reb Yankels Begräbnis sichtbar. Vier Monate vor seinem Tod teilte der Lehrer Chaim Gross mit, er habe den Zehnjährigen alles gelehrt, was er wisse. Von da an ging Max bis zu seiner bar-mizwe allmorgendlich in das Lehrhaus der Gemeinde, wo er mit anderen, oft mit graubärtigen Männern, jeden Tag einen anderen Abschnitt des Gesetzes studierte und hitzige Diskussionen über die Auslegungen führte. Nachdem er mit Dreizehn als Mann in die Gemeinde aufgenommen worden war, übernahm Rabbi Label persönlich die Verantwortung für die weitere Erziehung des Wunderkindes. Das war eine einzigartige Auszeichnung. Im Hause des Rabbi gab es außer Max nur noch einen einzigen Schüler; und das war der Schwiergersohn des Rabbi, ein zweiundzwanzigjähriger Mann, der auf ein Rabbinat wartete.
Chaim Gross dankte Gott täglich dafür, daß er ihn mit diesem Sohn gesegnet hatte. Maxens Zukunft war gesichert. Er würde Rabbiner werden und dank seiner glänzenden Gaben eine Schule um sich versammeln, die ihm Reichtum, Ehre und Ruhm bringen würde. Er, der Sohn eines Weinhändlers! Über diesen Träumen von seines Sohnes Zukunft verschied Chaim Gross eines Winterabends lächelnd an einem Herzschlag.
Max zweifelte nicht an Gott, weil dieser ihm seinen Vater genommen hatte. Aber als er auf dem kleinen jüdischen Friedhof an dem offenen Grab stand und kadisch sagte, spürte er zum erstenmal in seinem Leben, wie schneidend der Wind und wie bitter die Kälte war.