Max verbrachte den größten Teil seiner Tage in dem kleinen dunklen Zimmer mit der Thora. Die Propheten waren seine Familie.
Leah hatte ein Kind geboren, einen Sohn, den sie Chaim nannten.
Er starb mit drei Jahren an einem Blinddarmdurchbruch. Als Max den sterbenden jungen in seinen Armen hielt, als er spürte, wie das kleine Gesicht unter seinen Lippen brannte und das Leben unaufhaltsam aus ihm entwich, sagte er seiner Frau, daß er sie liebe.
Er sagte es nie wieder, aber Leah vergaß es nicht. Es war nicht genug, sie über die Einsamkeit zu trösten, die nie von ihr wich, über den Kummer, über die Leere ihres Lebens, über die Erkenntnis, daß Gott ihm viel mehr bedeutete als sie; aber es war immerhin etwas.
Die Jahre vergingen, die schul wurde immer schäbiger, doch die alten Männer seiner Gemeinde hielten Max eine Treue, die ihn verwunderte, weil sie Liebe enthielt. Er dachte nie daran, sich nach einem einträglicheren Rabbinat umzusehen. Der Hungerlohn, den sie als sein Jahresgehalt aufbrachten, genügte ihm. Zweimal brachte er Leah in Wut, weil er kleine Gehaltserhöhungen ablehnte; er erklärte dem Vorstand der schul ganz einfach, ein Jude brauche nicht mehr als sein Essen und seinen taless. Schließlich ging Leah selbst zu den Ältesten der Gemeinde und nahm die Erhöhung in seinem Namen an.
Einsam fühlte er sich nur, wenn er an die Chassidim dachte. Einmal erfuhr er, daß einige Familien aus Worka in Williamsburg wohnten.
Er nahm die lange Fahrt mit der Untergrundbahn auf sich und suchte, bis er die einstigen Landsleute fand. Oh, sie erinnerten sich seiner, nicht seines Gesichtes oder seiner Person, aber der Legende, die er gewesen war; sie erinnerten sich des ilui, des Wunderkindes, des Lieblingsschülers von Rabbi Label, er ruhe in Frieden. Er saß mit ihnen beisammen, und die Frauen brachten nahit, und von den Männern trugen einige noch Bärte, aber sie waren keine Chassidim.
Sie hatten keinen Lehrer, keinen großen Rabbi, an dessen Tisch sie sich versammeln konnten, um Worte der Weisheit zu hören und Bissen heiliger Speise zu genießen. Sie tanzten auch nicht, und sie freuten sich nicht, sie saßen einfach beisammen und seufzten und redeten davon, wie es in der alten Heimat gewesen war, die sie schon so lange verlassen hatten. Er besuchte sie nie wieder.
Manchmal diskutierte er mit den alten Männern seiner Gemeinde angeregt über das Gesetz, aber seine besten Debatten führte er, wenn er allein in seiner düsteren kleinen schul saß, eine entkorkte Whiskyflasche auf dem Tisch, neben den aufgeschlagenen Büchern.
Nach dem dritten oder vierten Glas spürte er, wie sein Gesicht sich erhellte und seine Seele glücklich ihre Fesseln abstreifte. Dann hörte er auch die Stimme. Immer war Rabbi Label sein Diskussionsgegner. Nie konnte Max den großen Mann sehen, aber die Stimme war da, die weise, zögernde Stimme, er hörte sie innerlich, wenn sie schon draußen nicht tönte, und dann führten die beiden ihre intellektuellen Duelle, wie sie es einst getan hatten, die Stimme parierte jeden philosophischen Ausfall, den Max unternahm, setzte zum Gegenstoß an und vollendete ihren Sieg mit Berufung auf biblische Quellen und rechtliche Präzedenzfälle. Wenn Max dann vom Kampf so erregt wie erschöpft war, schwand die Stimme, und Max trank, bis der Raum zu schwanken begann; dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schloß die Augen und wurde wieder zu dem kleinen Jungen, der die großen Hände eines Erwachsenen auf seinen Schultern fühlte und durch den Raum wirbelte, getragen vom schnellen Rhythmus eines donnernden biblischen Gesanges. Manchmal schlief er bei dieser inneren Musik ein.
Eines Nachmittags, als er nach solch einem Schlummer die Augen öffnete, stieg eine Woge der Freude in ihm auf: zum erstenmal glaubte er Rabbi Label leibhaft vor sich zu sehen. Dann erkannte er, daß ein großgewachsener junger Mann sich über ihn beugte, einer, den er schon irgendwann einmal getroffen haben mußte.
»Was wünschen Sie?« fragte er. Irgend etwas in den Augen des Jungen erinnerte ihn - erinnerte ihn an die Augen des Rabbi von Worka. Er stand vor Max und hielt ihm einen Kuchen in der Verpackung einer koscheren Bäckerei unter die Nase, als wäre das eine Eintrittskarte.
»Erzählen Sie mir von Gott«, sagte Michael.
In den leeren Stunden vor Tagesanbruch hatte Michael an der Existenz Gottes zu zweifeln begonnen, spielerisch zuerst, allmählich aber mit quälender Verzweiflung. Er warf sich hin und her, bis die Bettücher heillos durcheinandergeraten waren, und starrte in die Dunkelheit. Von Kindheit an hatte er gebetet. Jetzt fragte er sich, an wen seine Gebete sich wandten. Wie, wenn er nur zu der summenden Stille der schlafenden Wohnung betete, seine Wünsche und Ängste über Millionen Meilen ins Nichts sandte, oder seinen Dank einer Macht darbrachte, die nicht mächtiger war als die Katzen, deren Krallenwetzen am Pfahl für die Wäscheleine er aus dem Durchgang unter seinem Fenster hören konnte?
Die Beharrlichkeit seiner Fragen, die ihn schlaflos machten, hatte ihn schließlich zu Max Gross getrieben; und nun kämpfte er erbittert mit dem Rabbi und haßte ihn für seine ruhige Sicherheit. An dem verschrammten Tisch saßen sie einander gegenüber, ein Glas Tee nach dem andern leerend, im Bewußtsein des bevorstehenden Kampfes.
»Was wollen Sie also wissen?«
»Woher nehmen Sie die Gewißheit, daß der Mensch Gott nicht nur erfunden hat, weil er Angst hatte - Angst vor der Dunkelheit, vor der scheußlichen Kälte-, weil er irgend etwas gebraucht hat, was ihn schützt, sei es auch nur seine eigene dumme Einbildung?«
»Warum glauben Sie, daß es sich so abgespielt hat?« fragte Max ruhig.
»Ich weiß nicht, wie es sich abgespielt hat. Aber ich weiß, daß es seit mehr als einer Billion von Jahren Leben auf der Erde gibt. Und immer, in jeder primitiven Kultur, hat es auch etwas gegeben, zu dem man beten konnte: eine dreckbeschmierte Holzskulptur, oder die Sonne, oder einen riesigen steinernen Phallus.«
»Wos haßßt Phallus?«
»Potz.«
»Aha.« Einem Mann, der mit der Stimme des Label von Worka zu diskutieren gewohnt war, konnte das keine Schwierigkeit bereiten.
»Und wer hat die Menschen gemacht, die das schamlose Idol verehrten? Wer hat das Leben geschaffen?«
Ein Physikstudent von der Columbia konnte darauf leicht Antwort geben. »Der Russe Oparin meint, das Leben könnte mit der zufälligen Entstehung von Kohlenstoffverbindungen begonnen haben.« Er sah Gross an, in der Erwartung, in seinem Gesicht die Langeweile des Laien zu lesen, der in eine wissenschaftliche Diskussion gezogen wird - aber er las darin nichts als Interesse.
»Am Anfang enthielt die Erdatmosphäre keinen Sauerstoff, dafür große Mengen von Methan, Ammoniak und Wasserdampf. Oparin nimmt nun an, daß durch die elektrische Energie von Blitzen aus diesen Gasen synthetische Aminoacide entstanden, das Material alles Lebendigen. Dann entwickelten sich in den Tümpeln der Urzeit Millionen Jahre hindurch organische Zellen, und aus ihnen entstanden durch die natürliche Auslese immer kompliziertere Lebewesen - solche, die kriechen, solche, die Schwimmhäute haben
- und auch solche, die Gott erfunden haben. « Er sah Rabbi Gross herausfordernd an. »Verstehen Sie, wovon ich rede?«
»Ich verstehe genug.« Er strich sich den Bart. »Nehmen wir an, es war so. Dann habe ich eine Frage: Wer hat das - wie haben Sie gesagt? -ja, das Methan und den Ammoniak und das Wasser gemacht? Und wer hat den Blitz gesandt? Und woher ist die Welt gekommen, in der sich dieses Wunder ereignen konnte?«